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Inhalt:
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Die Kehrseiten der Empathie
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Die Kehrseite der Verarbeitungstiefe („depth of processing“)
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Hochsensibilität als Fehldiagnose
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Hochsensible und Narzissten: leider ein Klassiker
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Vantage Sensitivity / Differential Susceptibility
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Hochsensibilität wird vom Umfeld nicht immer gut erlebt
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Schwieriger Umgang mit Kritik
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Hochsensibilität als Ausrede und Opferrolle
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Hochsensibilitätsbeschreibungen als „Gefängnis“
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Ein instabiles Selbst(bild)
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Konfliktvermeidung verhindert Fortschritte in Beziehungen und
Persönlichkeitsentwicklung
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Die Gefahr der angestauten Ressentiments
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Die Gefahr der Lebensvermeidung
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Hochsensibilität und Alkohol
Die Beschreibungen der Menschen mit Hochsensibilität (HSP - hochsensible
Personen), die im Netz kursieren und nicht aus der Forschung kommen, scheinen
manchmal fast engelhafte Wesen abzubilden, ein bisschen zu verletzlich für diese harte
Welt. Wenn sie von Hochsensiblen geschrieben sind, sind manche Beschreibungen auch
nicht frei von Selbstbeweihräucherung (und vielleicht ist auch diese Webseite nicht ganz
frei davon). Und selbst die Artikel über die „Schattenseiten“ begnügen sich oft mit den
Nachteilen der Hochsensibilität oder rücken sie ein bisschen in eine Opferrolle.
Tatsächlich birgt die Hochsensibilität etliche hochwertige Eigenschaften, von denen die
Welt dringend mehr bräuchte. Doch so einfach kann es nicht sein. Hochsensible
bringen wertvolle Eigenschaften mit, von denen wir mehr brauchen. Aber wo Licht
ist, ist auch Dunkelheit.
Man kann vom eigenen “Schatten” wegschauen, d.h., von den Seiten, die man bei sich
selbst verdrängt, weil sie dem Selbstbild schaden. Doch das Wegschauen hat einen
Preis. Den eigenen Schatten sollte man besser im Blickfeld behalten. Sonst wirkt er aus
dem Hintergrund und projiziert sich auf andere. Oder er findet andere Wege, unser Leben
auf ungünstige Weise zu beeinflussen.
Derzeit gibt es noch sehr wenig Forschung über die dunkle Seite der Hochsensibilität.
Hier sind ein paar mögliche Schattenseiten aufgeführt.
Die Kehrseiten der Empathie
Eine der wichtigsten Eigenschaften, die in Verbindung mit Hochsensibilität genannt wird,
ist Empathie. Empathie wird oft gefeiert. Sie ermöglicht, sich in andere Menschen
einzufühlen und ein Echo ihrer Empfindungen zu verspüren. Teilweise erlaubt Empathie
sogar, unterdrückte Gefühle des Gegenübers zu „empfangen“. Das kann in Coaching und
Therapie sinnvoll eingesetzt werden, um den Klienten diesen unbewussten oder
verdrängten Teil ihres Innenlebens zu spiegeln: So können sie dieser Anteile bewusst
werden und sie sich wieder aneignen.
Neben der Gefühlsebene (emotionale Empathie) hat Empathie auch eine kognitive
Ebene: Die kognitive Empathie ermöglicht es, sich durch Denken in die andere Person
hinein zu versetzen, statt nur im unmittelbaren Fühlen zu verbleiben. (Vgl. Serge
Tisseron, „Empathie et Manipulation“, Paris, 2020.) Denn die emotionale Empathie richtet
sich vor allem auf Menschen und Objekte, in denen wir uns ein Stück weit selbst
wiedererkennen und spiegeln. Die kognitive Empathie hingegen erweitert den Kreis: Mit
ihrer Hilfe können wir uns in die Lebensumstände und Perspektiven sehr andersartiger
Menschen hinein denken. Auf diese Weise verstehen wir sie besser, statt nach den
eigenen Maßstäben, aus dem Gefühl des Moments heraus, oder nach gesellschaftlichen
Programmierungen über sie zu urteilen. (Übrigens: Über Menschen mit einer Autismus-
Spektrum-Störung (ASS) wird gesagt, dass sie weniger Empathie als andere besäßen.
Tatsächlich liegen eventuelle Defizite vor allem bei der kognitiven Empathie. Ihre
emotionale Empathie hingegen kann überdurchschnittlich hoch sein - vgl. Dziobek, Stoll,
„Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen“, 2024.)
Erst mit der kognitiven Empathie bekommt die Empathie eine echte
Unterscheidungsfähigkeit. Manche Menschen sind uns zu fremd oder zu
unsympathisch, damit unsere emotionale Empathie “anspringt”. Und erst die kognitive
Empathie erklärt uns, warum sie dennoch unsere Empathie verdienen.
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Vielleicht irritiert uns jemand durch eigenartige Verhaltensweisen. Es baut sich keine
Empathie auf. Wir wünschten, diese Person wäre weg. Doch dann erfahren wir, durch
welchen Leidensweg sie zu der wurde, die sie heute ist. Dieses Wissen baut eine
kognitive Empathie auf, die dann, und erst dann, einen Raum für emotionale
Empathie herstellt.
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Und umgekehrt kann uns unsere kognitive Empathie auch warnen, dass wir gerade
unsere emotionale Empathie den falschen Personen zukommen lassen, etwa weil
unser Denken uns sagt, dass wir gerade über unser Fühlen manipuliert werden.
Empathie hat aber auch Kehrseiten. Ob Empathie gut oder nicht gut ist, hängt davon
ab, zu welchem Zweck sie eingesetzt wird.
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Erst einmal schließt eine emotionale Empathie für Nahestehende keineswegs eine
starke Abneigung gegenüber Fremden aus. Die hohe Empathie gegenüber der
eigenen Gruppe senkt womöglich die Empathie gegenüber Außenstehenden.
Empathie und Ausgrenzung können Hand in Hand gehen. Diese Abneigung muss
durch mehr kognitive Empathie korrigiert werden, also dadurch, dass man sich in den
anderen nicht nur hinein fühlt, sondern auch hinein denkt, und hinter der sehr anderen
Oberfläche die Ähnlichkeiten in der Tiefe wahrnimmt.
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Empathie kann ausgenutzt werden. So haben zum Beispiel die meisten Menschen in
helfenden Funktionen und Berufen ihre Geschichten darüber, wie bestimmte Kunden,
Klienten und Patienten aus reinem Eigennutz an ihre Empathie appelliert haben.
Besonders wer ein „Helfersyndrom“ hat, ist leicht über die Empathie manipulierbar.
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Auch Internet-Propaganda nutzt gern die „Sympathie für Opfer“, etwa bei Konflikten,
um die öffentliche Meinung auf die eigene Seite zu ziehen. Dann wird es zu einem
Wetteifern um die größere Opferrolle. Wenn die verschiedenen Seiten sich nicht als
Opfer, sondern als Mittäter und Mitwirkende des Konflikts sähen, könnte dieser
möglicherweise verkürzt werden.
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Und Empathie ist eine Informationsquelle. Was, wenn eine empathische Person
zugleich eine manipulative Seite oder eine psychische Störung hat? Sie kann dann
ihre Empathie als wirksames Instrument benutzen, um Informationen über das intime
Innenleben, die Schwächen, Ängste, tiefen Wünsche und Sehnsüchte anderer
Menschen zu gewinnen und sie wirksamer manipulieren. Empathie ist wie jedes
andere Werkzeug. Sie kann Schaden anrichten, wenn sie mit unlauteren oder
eigennützigen Absichten eingesetzt wird.
Die Kehrseite der Verarbeitungstiefe („depth of
processing“)
Bei einem internationalen Online-Forschertreffen im Mai 2024 erklärte Dr. Elaine Aron,
was ihr die Jahrzehnte Erfahrung gezeigt haben: Die Verarbeitungstiefe („depth of
processing“) könnte die ganz zentrale Eigenschaft sein, von der man die meisten
anderen Merkmale Hochsensibler ableiten kann. Die größere Verarbeitungstiefe
bedeutet: Sinnesreize werden tiefer verarbeitet und liefern im Schnitt mehr und subtilere
Informationen als bei anderen Menschen. Hochsensible können also auch „schwache
Signale“ bewusst wahrnehmen, die bei Nicht-HSP die Schwelle der bewussten
Wahrnehmung nicht erreichen und daher vom Gehirn aussortiert werden. Eine
Hypothese für die Ursache ist, dass Hochsensible ein dichteres Netz an Verbindungen
zwischen Nervenzellen im Gehirn besitzen. Dadurch können auch stärkere Reaktionen
auf Umweltreize erfolgen - die allerdings nicht mit Emotionalität verwechselt werden
sollten. (Man kann gleichzeitig sehr emotional und/oder erregbar und dennoch nicht
hochsensibel sein.)
Die Kehrseite dieser Verarbeitungstiefe: Sie braucht Zeit und Energie. Wir leben aber in
einer Moderne, in der so oft von Schnelllebigkeit, Geschwindigkeit und schnellen
Umwälzungen die Rede ist. Das Risiko ist, dass die hochsensible Person nicht mit ihrer
eigenen Zeit „synchron“ ist, dass sie nicht „mithalten“ kann.
Typische Situationen, die viele HSP in Unternehmen, Organisationen oder Gruppen
erleben dürften:
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Sie sitzen in einer Besprechung und verarbeiten gedanklich die verschiedenen
Beiträge. Dann bilden sie sich eine Meinung und wollen nun ihre Ideen beitragen - nur
sind die anderen schon beim nächsten Tagesordnungspunkt oder am Aufstehen.
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Oder die HSP sehen früher als andere Risiken und mögliche Nebenwirkungen,
werden aber irgendwann als „ewige Bedenkenträger“ ausgegrenzt.
Hier sind die Verarbeitungsgeschwindigkeiten nicht aufeinander abgestimmt. Dabei kann
diese Verarbeitungstiefe für Gruppen und Organisationen sehr hilfreich sein. Denn hier
liegt eine Kreativitätsreserve, die oft kaum angezapft wird. Dafür müssen allerdings beide
Seiten aufeinander zu gehen. Auch die HSP haben hier etwas zu tun - zum Beispiel eben
nicht in den Rückzug gehen und die Dinge nur noch über sich ergehen lassen, sondern
„dran bleiben“ und sich weiterhin ausdrücken, auch wenn ihnen die unmittelbaren
Reaktionen nicht gefallen. Manche Saat braucht nämlich eine Weile, bis sie aufgeht.
So manche Management-Fehlentscheidung und vielleicht auch die eine oder andere
Finanzkrise könnten vermieden werden, wenn man den Hochsensiblen die Zeit für eine
Einschätzung ließe und sie dann auch danach fragte.
Hochsensibilität als Fehldiagnose
Ob man hochsensibel ist oder nicht, ist zunächst einmal eine Selbsteinschätzung. Es wird
viel darüber geschrieben, viele Menschen bieten ihre Beschreibungen und Definitionen
an. Die können aber unvollständig oder sogar falsch sein, oder das Selbstbild der Autoren
als gemeingültige Darstellung verkaufen. Es ist heute keine gesicherte „Diagnose“ der
Hochsensibilität verfügbar, sagt selbst Dr. Aron.
Emotionale Empathie, Erregbarkeit, Überforderung, ein Gefühl der Andersartigkeit - all
das kann etliche andere Gründe als eine Hochsensibilität haben.
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So können schlechte Erfahrungen bis hin zu Traumata dazu führen, dass ein Mensch
in bestimmten Kontexten überdurchschnittlich erregbar ist. Anders als bei einer
Hochsensibilität besteht dann möglicherweise ein Therapiebedarf.
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Dass bestimmte Sinne sehr starke Wahrnehmungen liefern (z.B. hohe
Geräuschempfindlichkeit = Hyperakusis) kann etliche Gründe haben, wie Stress,
Krankheiten, psychische Leiden, hormonelle Veränderungen, neurologische Probleme
usw. Hier hilft vielleicht ein Arztbesuch.
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Ein Gefühl der Andersartigkeit und möglicherweise der Überforderung kann z.B. bei
diversen Formen des Autismus auftreten. Hinter einer vermuteten Hochsensibilität
kann insbesondere ein sog. hochfunktionaler Autismus ohne intellektuelles Defizit
stecken - eine der am häufigsten übersehenen Formen der Neurodiversität, vor allem
bei überdurchschnittlich intelligenten Menschen, da sie gute Ausgleichsstrategien
entwickeln und so „unter dem Radar“ bleiben, oder auch bei Frauen, da sie höhere
soziale Anpassungsfähigkeiten besitzen. Autisten und Hochsensible haben
Gemeinsamkeiten (in der Regel eine überdurchschnittliche emotionale Empathie und
eine hohe Verarbeitungstiefe von Sinnesreizen), aber auch Unterschiede (z.B. bei der
Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Identifizierung von Emotionen und
Gefühlen bei sich selbst und anderen). (Vgl. z.B. Dziobek, Stoll, „Hochfunktionaler
Autismus bei Erwachsenen“)
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Ein Gefühl der Überforderung oder Überempfindlichkeit oder Orientierungslosigkeit
kann auch durch allzu häufige Aufenthalte in digitalen Welten entstehen. So findet
man seinen Platz in der echten Welt nicht und erlebt die Wirklichkeit als über Maßen
anders und bedrohlich. Dann ist man aber für die Wirklichkeit nicht zu sensibel,
sondern man kennt sie nicht gut genug.
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Eine hohe Ablenkbarkeit durch Sinneseindrücke kann ein Zeichen für ADHS sein.
Allerdings scheinen Menschen mit ADHS häufiger als andere ebenfalls hochsensibel
zu sein.
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Sich mehr bewegen kann aus einer vermeintlichen Hochsensibilität heraus zu einem
ausgeglicheneren Lebens- und Selbstempfinden führen. Eine wiederholt erhöhte
Reizbarkeit kann auch dadurch besser werden, dass man täglich mehr Wasser trinkt.
Manchmal sind es die ganz einfachen Dinge.
Es gibt etliche Umstände die aus der Ferne nach einer Hochsensibilität aussehen
können. Manche sind ganz unbedenklich. Andere können echte Symptome für etwas
sein. Wenn Sie Zweifel haben, kann es deswegen sinnvoll sein, medizinisch oder
psychotherapeutisch ausschließen zu lassen, dass ein körperliches oder seelisches
Leiden vorliegt. Bestätigt es sich, dass Hochsensibilität vorliegt, ist ein Coaching oft
ausreichend, da sie keine Störung oder Krankheit ist.
Hochsensible und Narzissten: leider ein Klassiker
Hochsensible Menschen tendieren dazu, mit Narzissten allen Geschlechts in
Partnerschaften zusammenzukommen. Die Zuwendung der hochsensiblen Person zieht
Narzissten an und gibt ihnen Nahrung. Außerdem mangelt es vielen hochsensiblen
Menschen an Selbstbewusstsein, was auch ihre Partnerwahl einschränkt. Narzissten
hingegen können ziemlich erfolgreiche Menschen sein oder zumindest durch
Selbstbewusstsein Erfolg ausstrahlen. Für viele Hochsensible scheint sich da also ein
Mensch mit einem relativ hohen „Status“ auf dem „Partnerschaftsmarkt“ für sie zu
interessieren - etwas, das sie selten erleben. Die Ernüchterung kommt dann später.
Wenn der hochsensible Mensch eines Tages endlich seine Hoffnung aufgibt, sein
Gegenüber „retten“ oder ändern zu können, besteht die Beziehung schon eine Weile und
die Überwindung zur Trennung fällt umso schwerer. Die Beziehung ist zwar ungesund,
aber auch vertraut. Irgendeine weitere Ausrede findet sich immer, um sie nicht zu
beenden. Außerdem haben viele Menschen, die Narzissten begegnen, diesen nagenden
Zweifel: „Vielleicht interpretiere ich das falsch. Vielleicht sehr nur ich das so.“
Hochsensible Menschen können nur einmal ihre Grenzen nur schwer ziehen, weil
sie sie selbst nicht gut kennen. Sie richten sich häufig nach außen aus, mitunter bis hin
zur Selbstaufopferung. Das Gegenstück dazu wäre es, ein reiferes, autonomeres, mit
sich selbst ehrlicheres Selbst aufzubauen, ein höheres Bewusstsein der eigenen
Grenzen und der eigenen Werte zu entwickeln und für sie einzustehen, damit man nicht
mehr über die eigene Gefühlswelt manipulierbar ist.
Denn es steckt womöglich auch etwas Kindliches, manchmal sogar Trotziges in dieser
Außenorientierung des Selbst. Man erkauft sich vielleicht einen gewissen Grad an
Anerkennung und Mitgefühl im Umfeld, manipuliert es womöglich durch demonstrative
Fürsorge und Aufopferung, um in einer komplexen Geschichte die Rolle des „guten
Menschen“ zu behalten. Aber dahinter steht auch die Weigerung, einen höheren und
angemesseneren Grad der Reife und persönlichen Souveränität anzustreben.
In der Entscheidung, jemanden “retten” oder auf andere Weise verändern oder “heilen”
zu wollen ohne dafür einen Auftrag erhalten zu haben, liegt auch etwas Übergriffiges. In
dem Glauben an die eigene Kraft, den anderen Menschen “heilen” zu können, liegt
vielleicht auch etwas… Narzisstisches. (“Ich weiß besser als dieser Mensch, was für ihn
gut ist.”) Eine Studie der TU Dresden (Jauk, Knödler, et al., 2022) zeigte etwa, dass HSP,
die den Erzählungen glauben, ihre Hochsensibilität sei eine „Superkraft“, Züge von
„hypersensitivem Narzissmus“ oder Befindlichkeitsnarzissmus aufweisen.
Man mag sagen, diese Aufopferung und Außenorientierung sei vielleicht traumatisch
bedingt, weil das eigene Selbst zu schwach ist. Aber ist ein pathologischer Narzissmus
das nicht auch? Hier wird ein Tanz zu zweit getanzt, zu zweit genährt, zu zweit verlängert.
Solange keiner von beiden den Tanz aufgibt, hat der andere auch keinen Grund,
aufzuhören.
Das paradoxe Geschenk der Narzissten an ihr empathisches Gegenüber besteht darin,
ihm das Leben so zunehmend unerträglich zu machen, bis er oder sie endlich den
überfälligen Reifungssprung tätigt: die Grenzen des eigenen Selbst besser definieren und
damit narzisstischen Manipulationstechniken nicht mehr so viel Windfläche bieten.
Übrigens ziehen Hochsensible nicht nur Narzissten an, sondern auch andere
“Energiesauger”, die sich an ihnen nähren. Das können etwa Menschen sein, die sehr
Ich-zentriert sind, gerne reden und das Zuhören lieber den anderen überlassen. Wenn
der hochsensible Mensch sich nicht dazu überwindet, diesen Menschen die Grenzen zu
zeigen, wird er zur “Energietankstelle” für Egozentriker aller Couleur. Auch hier besteht
das Risiko, ungesunde Situationen durch Mitwirkung zu stützen.
Übrigens: Der Vorwurf des “Narzissmus” wird heutzutage inflationär gebraucht, um
eigentlich Egozentrik zu beschreiben. Zum Beispiel wird nach einer beendeten Beziehung
die gesamte Verantwortung für das Scheitern auf die andere Person abgestreift, indem
man sagt, er oder sie sei halt narzisstisch. Klinische Narzissten gibt es gar nicht so viele,
dafür viel mehr Egozentriker. Überhaupt sollte man vorsichtig damit sein, psychologische
Diagnosen über Mitmenschen aufzustellen.
Vantage Sensitivity / Differential Susceptibility
Eine Eigenschaft der Hochsensibilität liegt in der sog. „Vantage Sensitivity“ oder
“Differential Susceptibility”, also einer intensiveren Reaktion auf positive und negative
Umfelder:
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Hochsensible Menschen werden von einem wohlgesinnten und unterstützenden
Umfeld überdurchschnittlich positiv beeinflusst.
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Jedoch wirkt ein negatives Umfeld auch überdurchschnittlich schädlich auf sie.
“Vantage Sensitivity” / “Differential Susceptibility” bedeutet also eine erhöhte Sensitivität
auf das Umfeld - im Guten wie im Schlechten.
Die negative „Vantage Sensitivity“ kann den Menschen tatsächlich in große Tiefen fallen
lassen, wenn er seinem negativen Umfeld ausgeliefert bleibt (oder ausgeliefert zu sein
glaubt). Die Gefahr besteht darin, den Fokus zu sehr auf die negative Seite zu setzen. So
übersieht man, dass ein schlechter innerer Zustand kein unausweichliches Schicksal sein
muss, und geht vielleicht zu selbstzerstörerischen Verhalten über.
Doch auch bei einem zunächst traumatischen Werdegang kann allein schon ein Wechsel
in ein positiveres Umfeld bei Hochsensitiven große Heilkraft entfalten. “Vantage
Sensitivity” bringt also auch eine verstärkte Resilienz mit sich.
(Übrigens ist die Fokussierung auf die Schattenseite der “Vantage Sensitivity”
wahrschenlich auch ein Grund, warum auch heute noch Teile der Psychologie
Hochsensibilität mit “Neurotizismus” verwechseln und sagen, Hochsensibilität gebe es an
sich gar nicht. Neurotizismus ist eine der fünf Persönlichkeitsmerkmale aus dem “Big
Five”-Persönlichkeitsmodell und beschreibt einen Hang zu negativen Emotionen.)
Hochsensibilität wird vom Umfeld nicht immer gut erlebt
Hochsensitive Kleinkinder können für ihre Eltern sehr anstrengend sein. Die Kinder
müssen erst lernen, mit den starken Reizfluten umzugehen. Sie reagieren
möglicherweise mit viel Weinen und Schreien und fordern ein mehr Beruhigung und
Geborgenheit. Erst später kommt die Sprache hinzu und ermöglicht den Kindern, die
Dinge zu relativieren, und den Eltern, ihnen Erklärungen, beruhigende Geschichten und
Tipps zu liefern.
Nicht alle Eltern haben die mentalen Werkzeuge oder einfach die Nerven, um damit gut
umgehen zu können. Wenn sie mit dem Thema der Hochsensibilität nicht vertraut sind,
können sie das Gefühl bekommen, ihr Kind stelle sich an und wolle ihnen das Leben
schwer machen, vielleicht als kleiner Tyrann einen Machtkampf gegen sie austragen.
Dabei sind die Kinder einfach von einer Reizflut überfordert und müssen den Umgang
damit erst noch trainieren. Im späteren Leben können sie sehr zugewandte Kinder sein,
an denen ihre Eltern viel Freude haben - vorausgesetzt, es ist am Anfang nicht zu vieles
kaputt gegangen.
Auch im späteren Leben besteht reichlich Raum für Missverständnisse. Wenn
Hochsensible / Hochsensitive / Neurosensitive etwa auf Stress durch Tränen oder
Rückzug reagieren, können andere Personen das persönlich nehmen oder meinen,
dieser Mensch sei wohl “aus Porzellan”, und sich über “dieses überempfindliche Gehabe”
ärgern. Dabei sind es spezifische Reaktionen auf einen vorübergehenden Stau an
neurologischen Reizen, die noch unverarbeitet sind. Wenn dieser Stau größer wird, kann
schon ein kleiner Stress eine Reaktion auslösen, die für andere schwer verständlich ist.
Überreizung führt zu Reizbarkeit. Wer seine eigene Hochsensibilität nicht versteht und sie
seinem Umfeld nicht erklärt, riskiert also zahlreiche Missverständnisse - privat, in der
Partnerschaft und im Beruf.
Schwieriger Umgang mit Kritik
Viele Hochsensible können nicht gut damit umgehend, wenn sie kritisiert werden. Auch
wenn die Kritik berechtigt ist und sachlich bleibt und nicht als persönlicher Angriff gemeint
ist. Kritik sitzt - oft tiefer, als sie sollte. Wenn sich die hochsensible Person gut selbst
regulieren kann, kann sie die Kritik schließlich einordnen und versachlichen. Aber unreife
oder stark verletzte Persönlichkeiten können dann unwirsche, nicht angemessene
Reaktionen haben und verletzend werden. Oder aus mangelnder Selbstregulierung
fordern sie dann dem Umfeld ab, dass es sie reguliert und tröstet. Statt die eigenen
Verhalten zu hinterfragen, die vielleicht zu Recht kritisiert wurden, werden dann lieber
Türen geknallt oder man geht in die selbst verordnete Isolation.
Hochsensibilität als Ausrede und Opferrolle
Hochsensibilität wird langsam zum Modethema. Zunehmend wird damit auch kokettiert.
Man will sich damit als etwas Besonderes darstellen. Oder es wird zu einer passiv-
aggressiven Einstellung. Oder man versucht, bestimmte Verhalten mit der
Hochsensibilität zu rechtfertigen, obwohl die Hochsensibilität, wie sie von Elaine Aron und
anderen definiert ist, im Bereich der Sinneswahrnehmungen und nicht der Verhalten liegt.
Daher auch der wissenschaftlicher Name “Sensorische Verarbeitungssensitivität”. Es
teilen zwar viele Menschen einen Hochsensibilität (laut Elaine Aron sind das 15 bis 20%
der Menschheit). Aber die Verhalten, die jede und jeder für sich daraus ableitet, sind völlig
individuell und keineswegs vorbestimmt. Das eigene Sein zu ändern, ist nicht leicht. Aber
das eigene Verhalten zu ändern, liegt durchaus im Machtbereich eines jeden Menschen.
Wenn jemand allzu gerne seine Hochsensibilität betont, kann es in manchen Fällen sein,
dass damit die anderen dazu gebracht werden sollen, dass sie sich an die Bedürfnisse
der vermeintlich hochsensiblen Person anpassen, sie mit Samthandschuhen anfassen,
nicht zu viel von ihr fordern. Das kann in Richtung Manipulation und sogar
Befindlichkeitsnarzissmus (engl. vulnerable narcissism) gehen. „Nicht ich muss meinen
Platz in der Welt finden, sondern alle anderen müssen sich an mich anpassen. Ich bin ja
so sensibel.“
Je mehr Menschen sich aber aber fälschlicherweise als hochsensibel bezeichnen, desto
leichter fällt es manchen, Hochsensibilität als „Modewort“ abzuwerten und zu bestreiten,
dass es sie wirklich gibt.
Alternativ kann die Überzeugung, dass man als hochsensible Person „nun mal so ist wie
man ist“, auch zur Überzeugung führen, dass Veränderung kaum möglich ist und
deswegen auch nicht versucht zu werden braucht. Man über-identifiziert sich als HSP, als
würde das alle anderen Persönlichkeitselemente überlagern und bestimmen, und sieht
sich in ständiger Gefahr der Überforderung. Der Fokus geht auf alles, was vermieden
werden muss. So verkleinert man ohne Not die Möglichkeit der eigenen
Persönlichkeitsentwicklung: Man bildet sich unüberwindbare Mauern um die eigene
Komfortzone herum ein, die gar nicht da sind.
Oder es wird daraus eine Ausredenkultur und Opferrolle gestrickt, die zwar zunächst
komfortabel ist. Aber erstens muss jede Opferrolle auch eine Tätergruppe definieren
(denn: ohne Täter keine Opfer) und damit Menschen in eine Ecke stellen, in die sie
wahrscheinlich nicht gehören. Zweitens läuft jede selbst gebastelte Opferrolle letztlich auf
eine Selbstentmachtung und Selbstentmündigung hinaus, statt die persönliche
Souveränität zu stärken.
Was bleibt am Ende? Selbstverschuldeter Stillstand. Dem Selbstwertgefühl tut das nicht
gut.
Bei einem Forschertreffen im Mai 2024 sagte Elaine Aron: Die typischen Hochsensiblen
sind nicht die sichtbaren Hochsensiblen. Die, die gern alle wissen lassen, dass sie
hochsensibel sind, sind weniger repräsentativ für echte Hochsensibilität.
Hochsensibilitätsbeschreibungen als „Gefängnis“
Wenn man Literatur oder Webseiten über Hochsensibilität liest, steht dort immer wieder
viel Ähnliches. Es verfestigt sich ein bestimmtes Bild: sehr empathisch und fürsorglich
und liebevoll und manchmal etwas kindlich und ein bisschen zu sensibel für diese harte
Welt. Doch das hat etwas von einem allzu „niedlichen“ Wunschbild. Gelegentlich taucht
auch die Vokabel „Superkraft“ bzw. „Superpower“ auf.
Wie bereits weiter oben gesagt: Ein solches Bild lässt vieles aus, insbesondere viele
Schattenseiten. Ich erlebe immer wieder hochsensible Menschen, die zu diesem Bild
nicht passen. Und ich kenne vereinzelte Fälle, in denen HSP auch schon von
Onlineplattformen für HSP fort gedrängt wurden. Oder ihre Beiträge wurden zensiert, weil
sie nicht so gut in die „Erzählung“ passten. Das hinterlässt den Eindruck, dass hier ein
bestimmtes, positives Wunschbild in die Wirklichkeit gedrückt wird und zu einem noch so
jungen Konzept bereits Normen entstehen.
Doch Normen formen. So kann Folgendes passieren. Ein Mensch wird seiner
Hochsensibilität bewusst. Das hat oft etwas Befreiendes und sogar Sinnstiftendes: das
Versprechen einer Art Heimat. Nun liest er einiges darüber und findet viele
Beschreibungen, die einander sehr ähneln. Und so war er eben noch in einer
Selbstbefreiung begriffen, doch diese „Erzählung“ über Hochsensibilität wirkt nun
zunehmend wie eine neue Einschränkung: eine Beschreibung, in der man gefangen sein
kann. Eine Norm. Teile von sich selbst, die nicht zur Norm passen, werden verdrängt oder
verheimlicht. Man will ja dazugehören, auch wenn man dabei unfrei bleibt - nur diesmal
aus neuen Gründen unfrei.
Oder man nimmt die eigenen Abweichungen von der Norm als Grund dafür, sich doch
nicht als hochsensibel zu sehen. Eben witterte man Befreiung und glaubte, endlich eine
menschliche Gemeinschaft gefunden zu haben, der man sich zurechnen könnte. Doch
die Zutrittskriterien, die auf der Tür stehen, sagen: Offenbar gehörst du auch hier nicht
dazu.
Echte Persönlichkeitsentwicklung kann nur durch Integration aller Persönlichkeitsanteile
erreicht werden - auch derer, die nicht so „gesellschaftlich akzeptabel“ erscheinen. Ein
Wunschbild der Hochsensibilität hilft nicht, vollständig zu werden, sondern schafft neue
Gründe, bestimmte Anteile von sich abzuspalten, weil sie nicht zum Wunschbild passen.
Gerade tat man ein paar Schritte in Richtung persönlicher Souveränität - um dann wieder
kehrt zu machen und nur einen Konformismus gegen einen anderen einzutauschen, statt
das Erlebnis der eigenen, ganz individuellen Hochsensibilität fernab der Normen
zuzulassen und zu entdecken.
Ein instabiles Selbst(bild)
Das Selbst eines Menschen ist ein System. Ein gesundes System braucht gesunde
Grenzen, die das Darin vom Außen unterschieden.
Hochsensible können sich innerlich kaum von ihrem Umfeld isolieren. Sie saugen die
Reize aus dem Umfeld auf. Hochsensibilität ist in erster Linie eine Umweltsensitivität.
Durch dieses ständige Angeschlossensein an das Umfeld weht auch ein ständiger
Luftzug durch die Persönlichkeit. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt
verschwimmen. Das Selbst(bild) kann instabil sein, weil äußere Einflüsse es immer
wieder beeinflussen und in eine andere Richtung verschieben. Was gestern noch als
wahr und verlässlich erschien, kann heute wieder in Frage stehen.
Die spirituell Interessierten mögen sagen, dass das Fließende dem wahren Selbst mehr
entspricht als das Feste. Das Fließende passt sich den Herausforderungen besser an,
denn es kann hinaus um die Herausforderungen zu überwinden, und hinterher auch
wieder zu einer inneren Heimat, einem inneren Ort der Stabilität, einem festen
Persönlichkeitskern.
Aber was ist, wenn da wenig Stabiles im Inneren zu sein scheint? Wenn sowohl die
innere als die äußere Welt als ständig unbeständig erlebt werden, kann es schwer
werden, diesen stabilen Persönlichkeitskern im Innen zu finden, von dem aus das Leben
aufgebaut werden kann. Vielleicht wird irgendwann die Hoffnung aufgegeben, doch
einmal das eigene Leben meistern zu können.
Und wer die eigenen Grenzen nicht gut erkennen kann, kann das wahrscheinlich auch
nicht bei den anderen. So kann es sein, dass ein hochsensibler Mensch jemand anderen
in einem schlechten Zustand sieht und voller Empathie und Hilfsbereitschaft auf ihn
zugeht, aber Wut und Ablehnung kassiert. Warum? Weil es zu früh war: Wenn man
jemandem zu nahe kommt, ohne vorher eine belastbare Vertrauensbezieheung
aufzubauen, ist das ein unerlaubtes Eindringen in die Intimsphäre des Mitmenschen und
aktiviert dessen Selbstschutz. Wer diese Erfahrung der Ablehnung öfters macht, kann
irgendwann mit der Vermeidung von Nähe reagieren. Dabei wäre es sinnvoller, sich
darüber Gedanken zu machen,
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wo die eigenen Grenzen liegen, wo die Grenzen der anderen liegen,
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und dass es nicht einfach Nähe oder Nicht-Nähe gibt, sondern dass sich Nähe in
Stufen und ohne Hast aufbaut, genauso wie sich Grenzen in Stufen abbauen.
Konfliktvermeidung verhindert Fortschritte in Beziehungen
und Persönlichkeitsentwicklung
Der Hang zur Konfliktvermeidung entsteht insbesondere daraus, dass unangenehme
Situationen für Hochsensible tief erlebt werden und lange nachglühen, manchmal Tage,
Wochen, Jahre lang. Das Vermeiden von Konflikten kann beispielsweise dazu führen,
dass manche Hochsensiblen Unrecht sehen oder erleben, aber nichts tun, und dass sie
eine schädigende Situation sozusagen mittragen und ggf. still leiden. Auf der
Schattenseite der Hochsensibilität kann also eine mangelnde Courage und eine
Bereitschaft für Ausreden stehen - und das sei hier mit viel Respekt gesagt, von
jemandem, der das auch von sich selbst kennt.
Und wer auch eine Gehaltsverhandlung als Konfrontation sieht, setzt sich vielleicht nicht
für ein besseres Einkommen ein, erbringt zwar Leistung, vielleicht sogar mit großer
Gewissenhaftigkeit und Verlässlichkeit, bekommt dafür aber keine gebührende
Entlohnung. So endet man womöglich in der inneren Kündigung oder gerät in den Kreis
der Selbstabwertung. Sich „unter Wert verkaufen“ ist unter Hochsensiblen verbreitet.
In Beziehungen kann der Hang zur Konfliktvermeidung dazu führen, dass sich langsam
das Gift des Nichtgesagten und des Grolls ansammelt, statt dass erforderliche
Entwicklungen und Veränderungen angestoßen werden. Die Beziehung sollte einen
neuen Reifegrad erreichen, aber der Anstoß dazu kommt nicht. Gerade die Themen, die
man sich nicht anzusprechen traut, sind oft der Keim künftiger Krisen, an denen die
Beziehung letztlich zerfällt. Irgendwann platzt dann wegen einer Lappalie alles heraus -
der Damm bricht.
Beziehungen sind auf dem Pfad menschlicher Entwicklung wichtige
Fortbildungsangebote des Lebens. Vor lauter Konfliktvermeidung in Beziehungen kann es
sein, dass das Leben uns Lehren auf den Weg mitgeben will und diese Lehren nicht bei
uns ankommen. Und so verlaufen und enden Beziehungen immer wieder auf ähnliche
Weise. Wir sind dann vielleicht so darauf fokussiert, den verschiedenen Partnern oder
Partnerinnen die Schuld zu geben, bleiben aber für unsere eigenen Verhaltensmuster
blind. Und auch dafür, wie sehr die Verhalten der anderen vielleicht auch Reaktionen auf
unsere eigenen sind. Denn wir sehen deutlich, was andere uns antun, aber nicht die
Schattenseite, nämlich was wir den anderen antun. Dass da ein Beziehungsmuster
vorliegt und abgelegt werden sollte, wird, wenn überhaupt, erst nach mehreren
schmerzlichen Durchgängen deutlich - es sei denn, man blickt mit großer Ehrlichkeit auf
die eigenen Verhalten.
Die Gefahr der angestauten Ressentiments
Hochsensible Menschen erleben öfter als andere erniedrigende Situationen. Denn sie tun
sich schwerer als andere, ihre Grenzen zu setzen oder überhaupt zu sehen. Daher werde
diese Grenzen öfter übertreten – manchmal auf sehr grobe Weise. Oder der
hochsensivitive Mensch, oft kreativ, liefert Ideen und sieht, wie andere sie sich aneignen.
Weil bei Hochsensibilität Verletzungen ein Leben lang unausweichlich sind, und weil sie
lange nachklingen, ist es wichtig, zu lernen, mit ihnen umzugehen und sie kreativ
umzuwandeln. Ohne diese innere Alchemie, die diese negativen Stauungen in etwas
Höherwertiges verwandelt, können Selbstverachtung, Gefühle der Ohnmacht und
Ressentiments entstehen.
Unangenehme bis traumatische Erlebnisse führen vor allem dann zu Langzeitfolgen,
wenn dabei auch Machtlosigkeit bzw. Ohnmacht erlebt wird. Dann setzen sie sich
nämlich erst recht in der bewussten oder unbewussten Erinnerung fest. Es lauern
möglicherweise Trauma-Spätfolgen und Depressionen. Oder es entsteht ein Gefühl, dem
Leben weitgehend ausgeliefert zu sein, statt ihm selbstwirksam zu begegnen.
Und Ressentiments können sich anstauen, zu Vorurteilen und schlimmstenfalls
Rachegelüsten werden. Die müssen zwar nicht ausgelebt werden. Aber manchmal
werden sie es. Hochsensibilität schließt keineswegs unsensibles Handeln aus. Und sie
schließt auch Gewalt nicht aus, gegen andere oder sich selbst.
Um dem beizukommen, ist ein ehrlicher Blick auf diese verdrängten Regungen in den
dunklen Winkeln der Persönlichkeit, also “Schattenarbeit” nötig.
Die Gefahr der Lebensvermeidung
Dass das Erleben unangenehmer Situationen oder intensiver Reizfluten so anstrengend
ist, kann zur Meidung einer wachsenden Zahl an Situationen führen, nur weil dort die
theoretische Möglichkeit besteht, sich schlecht zu fühlen. So könnte man viel Spaß auf
der nächsten Party haben und interessante Leute treffen, geht aber gar nicht mehr zu
Partys. Am Ende können wesentliche Aspekte und ganze Bereiche des Lebens in die
zunehmend lebensfressende Vermeidungszone verbannt sein. Es wird nur noch ein
weitgehend verstecktes Dasein geführt. Der Mensch kann sich dadurch weit weg von
seiner Berufung bringen, und auch interessante Begegnungen aufgeben. Oder sein
Leben kann zum Stillstand kommen – bis hin zur Selbstaufgabe oder zum Suizid als
ultimative Lebensvermeidung.
Diese Lebensvermeidung muss nicht, kann aber mit einer Opferhaltung oder Verbitterung
einher gehen. Die eigene Lebensvermeidung wird erträglicher gemacht, indem anderen
oder der ganzen Gesellschaft die Schuld gegeben wird. Verpasste Begegnungen aller Art
tun weniger weh, wenn man sich sagt, dass die anderen ohnehin Idioten sind. Solch eine
Einstellung kann auch eine Belastung für Nahestehende sein, die der hochsensiblen
Person Lebendigkeit und das Erleben ihrer Berufung wünschen, aber damit immer wieder
ins Leere laufen.
Es kann aber auch sein, dass es kaum Nahestehende gibt, sondern vor allem
Einsamkeit. Oder vielleicht wird ein Angepasstsein bis hin zum Konformismus gelebt. Die
eigene Kreativität findet keinen Platz mehr und diese Abkehr wird durch Ausreden
erträglicher gemacht - oder durch das üppige digitale Unterhaltungsangebot, das die
Lebensvermeidung deutlich leichter (und verlockender) macht.
Die Lösung besteht in der Regel darin, sich genau dem zuzuwenden, das man bisher
vermied, und beschließt, den damit verbundenen Schmerz für eine Weile auszuhalten,
bis er ausklingen kann. Oft ist das gar nicht so schlimm: Sobald man etwas anschaut, vor
dem man Angst hat, wird es ein ganzes Stück kleiner. Und vielleicht will es uns nicht
einmal schaden und es war alles nur ein Missverständnis.
Wenn der hochsensible Mensch nicht irgendwann über seinen Schatten springt und
wieder zur Selbstwirksamkeit und persönlichen Souveränität findet, kann er in die innere
Leere bis hin zur Depression rutschen.
Eine schwierige Situation überwunden und gemeistert zu haben ist eines der
höchsten Gefühle. Den Mut dafür aufbringen fällt leichter, wenn man Unterstützung hat -
aus dem privaten Kreis oder Therapeuten bzw. Coachs.
Hochsensibilität und Alkohol
Zu diesem Thema gibt es leider keine Studien. Aber es könnte gut sein, dass
Hochsensible überdurchschnittlich oft zum Alkohol greifen (so wie das offenbar bei
Hochbegabten auch der Fall ist). Warum? Mehrere Gründe sind möglich:
•
Die Empfindungen können zu stark sein. Alkohol schafft schnelle Abhilfe, dämpft das
Erleben, nimmt die schärferen Kanten aus den Empfindungen heraus, befriedet ein
bisschen das innere Rauschen - allerdings mit allen Nachteilen des Alkohols für
Körper und Geist.
•
Menschen, die ihrer Hochsensibilität nicht bewusst sind, können Alkohol als
Bewältigungsstrategie wählen. Wenn also viel Alkohol im Spiel ist, sollte geprüft
werden, ob nicht eine unerkannte, vielleicht sogar verdrängte Hochsensibilität
vorliegt. Die ganz wesentliche Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität könnte sogar
der Schlüssel zur Abkehr vom Alkohol sein. Möglicherweise ist das bei Männern öfter
der Fall als bei Frauen. Denn die mangelnde kulturelle Akzeptanz männlicher
Hochsensibilität verstärkt noch den Hang dazu, sich zu betäuben und die eigene
Hochsensibilität zu verdrängen.
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Alexander Hohmann - Blog des Coachs
Coaching und mehr
Die Schattenseiten der Hochsensibilität
Solange man nicht durch den
eigenen Schatten geht, sieht man
nur falsches Licht. Das wahre Licht
liegt hinter dem Schatten, und nur
dort kann man wieder ganz werden.