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Inhalt:
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Die Kehrseiten der Empathie
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Hochsensible und Narzissten: leider ein Klassiker
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Vantage Sensitivity
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Hochsensibilität wird vom Umfeld nicht immer gut erlebt
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Hochsensibilität als Ausrede
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Hochsensibilitätsbeschreibungen als „Gefängnis“
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Ein instabiles Selbst(bild)
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Konfliktvermeidung verhindert Fortschritte in Beziehungen und
Persönlichkeitsentwicklung
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Die Gefahr der angestauten Ressentiments
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Die Gefahr der Lebensvermeidung
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Hochsensibilität und Alkohol
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Die Suche nach dem Selbstvertrauen am falschen Ort
Die Beschreibungen der Menschen mit Hochsensibilität, die im Netz kursieren, scheinen
manchmal fast engelhafte Wesen abzubilden, ein bisschen zu verletzlich für diese harte
Welt. Wenn sie von Hochsensiblen geschrieben sind, sind manche Beschreibungen auch
nicht frei von Selbstbeweihräucherung (und vielleicht ist auch diese Webseite nicht ganz
frei davon). Tatsächlich birgt die Hochsensibilität etliche hochwertige Eigenschaften, von
denen die Welt dringend mehr bräuchte. Doch so einfach kann es nicht sein. Wo Licht
ist, ist auch Dunkelheit. Man kann vom eigenen “Schatten” wegschauen, d.h., von den
Seiten, die man bei sich selbst verdrängt, weil sie einem schönen Selbstbild schaden.
Doch das Wegschauen hat einen Preis. Den eigenen Schatten sollte man besser im
Blickfeld behalten, sonst wirkt er aus dem Hintergrund oder projiziert sich auf andere.
Derzeit gibt es noch sehr wenig Forschung über die dunkle Seite der Hochsensibilität.
Hier sind ein paar mögliche Schattenseiten aufgeführt.
Die Kehrseiten der Empathie
Eine der wichtigsten Eigenschaften, die in Verbindung mit Hochsensibilität genannt wird,
ist Empathie. Empathie wird zwar oft gefeiert. Sie ermöglicht, sich in andere Menschen
einzufühlen und ein Echo ihrer Empfindungen zu fühlen. Teilweise erlaubt Empathie
sogar, unterdrückte Gefühle des Gegenübers zu „empfangen“. Das kann in Coaching und
Therapie sehr sinnvoll eingesetzt werden, um den Klienten diesen unbewussten oder
verdrängten Teil ihres Innenlebens zu spiegeln: So können sie dieser Anteile bewusst
werden und sie sich wieder aneignen.
Neben der Gefühlsebene hat Empathie auch eine kognitive Ebene: In einer
fortgeschrittenen Form ermöglicht sie, sich gedanklich in die andere Person hinein zu
versetzen statt nur im unmittelbaren Fühlen zu bleiben. (Vgl. Serge Tisseron, „Empathie
et Manipulation“, Paris, 2020.) Denn die emotionale Empathie richtet sich vor allem auf
Menschen und Objekte, in denen wir uns ein Stück weit selbst wiedererkennen. Die
kognitive Empathie macht möglich, diesen Kreis auszudehnen: Mit ihrer Hilfe können wir
uns in die Lebensumstände völlig anderer Menschen hinein denken. Auf diese Weise
verstehen wir sie besser, statt sie nach den eigenen Maßstäben oder aus dem Gefühl
des Moments heraus oder nach gesellschaftlichen Programmierungen zu beurteilen bzw.
verurteilen.
Erst mit der kognitiven Empathie bekommt die Empathie eine echte
Unterscheidungsfähigkeit. Manche Menschen sind uns zu fremd oder zu
unsympathisch, damit unsere emotionale Empathie “anspringt”. Und erst die kognitive
Empathie erklärt uns, warum sie dennoch unsere Empathie verdienen.
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Vielleicht irritiert uns jemand durch eigenartige Verhaltensweisen. Es baut sich keine
Empathie auf. Wir wünschten, diese Person wäre weg. Doch dann erfahren wir, durch
welche Traumata sie zu dem wurde, was sie heute ist. Dieses Wissen baut eine
kognitive Empathie auf, die dann auch einen Raum für emotionale Empathie herstellt.
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Und umgekehrt kann uns unsere kognitive Empathie auch warnen, dass wir gerade
unsere emotionale Empathie den falschen Personen zukommen lassen, weil unser
Denken manipulative Absichten aufdeckt.
Empathie hat aber auch Kehrseiten. Ob Empathie gut oder nicht gut ist, hängt davon
ab, zu welchem Zweck sie eingesetzt wird.
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Erst einmal schließt eine emotionale Empathie für Nahestehende keineswegs eine
starke Abneigung gegenüber Fremden aus. Die hohe Empathie gegenüber der
eigenen Gruppe senkt womöglich die Empathie gegenüber Außenstehenden. Diese
Abneigung muss durch kognitive Empathie korrigiert werden, also dadurch, dass man
sich in den anderen nicht nur hinein fühlt, sondern auch hinein denkt.
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Empathie kann ausgenutzt werden. So haben zum Beispiel alle Menschen in
helfenden Funktionen und Berufen ihre Geschichten darüber, wie bestimmte Kunden,
Klienten und Patienten aus reinem Eigennutz an ihre Empathie appelliert haben.
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Und Empathie ist eine Informationsquelle. Was, wenn eine empathische Person
zugleich eine manipulative Seite oder eine psychische Störung hat? Sie kann dann
ihre Empathie als wirksames Instrument benutzen, um Informationen über das intime
Innenleben, die Schwächen, Ängste und Sehnsüchte anderer Menschen zu gewinnen
und sie wirksamer manipulieren. Empathie ist wie jedes andere Werkzeug. Sie kann
Schaden anrichten, wenn sie mit unlauteren oder eigennützigen Absichten eingesetzt
wird.
Hochsensible und Narzissten: leider ein Klassiker
Hochsensible Menschen tendieren dazu, mit Narzissten allen Geschlechts
zusammenzukommen. Die empathische Zuwendung der hochsensiblen Person zieht
Narzissten an und gibt ihnen Nahrung. Wenn der hochsensible Mensch eines Tages
endlich seine Hoffnung aufgibt, sein Gegenüber „retten“ oder ändern zu können, besteht
die Beziehung schon eine Weile. Die Überwindung zur Trennung fällt umso schwerer. Die
Beziehung ist zwar ungesund, aber auch vertraut. Irgendeine weitere Ausrede findet sich
immer. Sie bleibt vielleicht auch noch bestehen, wenn für Außenstehende überhaupt nicht
mehr nachvollziehbar ist, warum „die noch zusammen sind“.
Das Schema wird auch dadurch unterstützt, dass hochsensible Menschen ihre Grenzen
schwer ziehen können weil sie sie selbst nicht gut kennen. Sie richten sich häufig nach
außen aus, bis hin zur Selbstaufopferung. Das Gegenstück dazu wäre, ein reiferes,
autonomeres, mit sich selbst ehrlicheres Selbst aufzubauen, ein höheres Bewusstsein
der eigenen Grenzen und der eigenen Werte zu entwickeln und dafür einzustehen, und
auch eine Fähigkeit aufzubauen, die eigene Gefühlswelt besser zu lesen, damit sie nicht
mehr von anderen manipulierbar ist.
Denn es steckt womöglich auch etwas Kindliches, manchmal sogar Trotziges in dieser
Außenorientierung des Selbst. Man erkauft sich vielleicht einen gewissen Grad an
Anerkennung und Mitgefühl im Umfeld, manipuliert es vielleicht sogar. Aber dahinter steht
auch die Weigerung, einen höheren und angemesseneren Grad der Reife und
persönlichen Souveränität anzustreben. In der Entscheidung, jemanden “retten” oder auf
andere Weise verändern oder “heilen” zu wollen ohne dafür einen Auftrag erhalten zu
haben, liegt auch etwas Übergriffiges. In dem Glauben an die eigene Kraft, den anderen
Menschen “heilen” zu können, liegt vielleicht auch etwas… Narzisstisches. (“Ich weiß
besser als dieser Mensch, was für ihn gut ist.”) Zumindest kann es so wahrgenommen
werden.
Man mag sagen, diese Aufopferung und Außenorientierung sei vielleicht traumatisch
bedingt, weil das eigene Selbst zu schwach ist. Aber ist ein pathologischer Narzissmus
das nicht auch? Hier wird ein Tanz zu zweit getanzt, zu zweit genährt, zu zweit verlängert.
Da passen Dinge zusammen. Warum?
Das paradoxe Geschenk der Narzissten an das empathische Gegenüber besteht darin,
ihm das Leben so zunehmend unerträglich zu machen, bis er oder sie endlich den
überfälligen Reifungssprung tätigt, und den anstrengenden Schritt tut, das eigene Selbst
besser zu definieren und damit narzissistischen Manipulationstechniken nicht mehr so
viel Windfläche zu bieten.
Übrigens ziehen Hochsensible nicht nur Narzissten an, sondern auch andere
“Energiesauger”, die sich an ihnen nähren. Das können etwa Menschen sein, die sehr
Ich-zentriert sind, gerne reden und das Zuhören lieber den anderen überlassen. Wenn
der hochsensible Mensch sich nicht dazu überwindet, diesen Menschen die Grenzen zu
zeigen, wird er zur “Energietankstelle” für Egozentriker aller Couleur. Auch hier besteht
das Risiko, ungesunde Situationen durch Mitwirkung zu stützen.
Zuletzt sei noch gesagt, dass der Vorwurf des “Narzissmus” gegenüber anderen
heutzutage inflationär gebraucht wird, zum Beispiel um nach einer beendeten Beziehung
die gesamte Verantwortung für das Scheitern auf die andere Person abzustreifen.
Überhaupt sollte man vorsichtig damit sein, psychologische Diagnosen über
Mitmenschen aufzustellen, und den Blick auch mal den eigenen narzisstischen Anteilen
zuwenden.
Vantage Sensitivity / Differential Susceptibility
Eine Eigenschaft der Hochsensibilität liegt in der sog. „Vantage Sensitivity“ oder
“Differential Susceptibility”, also einer intensiveren Reaktion auf positive und negative
Umfelder:
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Hochsensible Menschen werden von einem wohlgesinnten und unterstützenden
Umfeld überdurchschnittlich positiv beeinflusst.
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Jedoch wirkt ein negatives Umfeld auch überdurchschnittlich schädlich auf sie.
“Vantage Sensitivity” / “Differential Susceptibility” bedeutet also eine erhöhte Sensitivität
auf das Umfeld - im Guten wie im Schlechten.
Die negative „Vantage Sensitivity“ kann den Menschen tatsächlich in große Tiefen fallen
lassen, wenn er seinem negativen Umfeld ausgeliefert bleibt (oder ausgeliefert zu sein
glaubt). Die Gefahr besteht darin, den Fokus zu sehr auf die negative Seite zu setzen. So
übersieht man, dass ein schlechter innerer Zustand kein unausweichliches Schicksal sein
muss, und geht vielleicht zu selbstzerstörerischen Verhalten über.
Doch auch bei einem zunächst traumatischen Werdegang kann allein schon ein Wechsel
in ein positiveres Umfeld bei Hochsensitiven große Heilkraft entfalten. “Vantage
Sensitivity” bringt also auch eine verstärkte Resilienz mit sich.
(Übrigens ist die Fokussierung auf die Schattenseite der “Vantage Sensitivity”
wahrschenlich auch ein Grund, warum auch heute noch Teile der Psychologie
Hochsensibilität mit “Neurotizismus” verwechseln und sagen, Hochsensibilität gebe es an
sich gar nicht. Neurotizismus ist eine der fünf Persönlichkeitsmerkmale aus dem “Big
Five”-Persönlichkeitsmodell und beschreibt einen Hang zu negativen Emotionen.)
Hochsensibilität wird vom Umfeld nicht immer gut erlebt
Hochsensitive Kleinkinder können für ihre Eltern sehr anstrengend sein. Die Kinder
müssen erst lernen, mit den starken Reizfluten umzugehen. Sie reagieren zunächst mit
viel Weinen und Schreien und fordern ein mehr Beruhigung und Geborgenheit. Erst
später kommt die Sprache hinzu und ermöglicht, die Dinge zu relativieren.
Nicht alle Eltern haben die mentalen Werkzeuge oder einfach die Nerven, um damit gut
umgehen zu können. Wenn sie mit dem Thema der Hochsensibilität nicht vertraut sind,
können sie das Gefühl bekommen, ihr Kind stelle sich an und wolle ihnen das Leben
schwer machen, vielleicht als kleiner Tyrann einen Machtkampf gegen sie austragen.
Dabei sind die Kinder einfach von einer Reizflut überfordert und müssen den Umgang
damit erst noch trainieren. Im späteren Leben können sie sehr zugewandte Kinder sein,
an denen ihre Eltern viel Freude haben - voraus gesetzt, es ist am Anfang nicht zu vieles
kaputt gegangen.
Auch im späteren Leben besteht reichlich Raum für Missverständnisse. Wenn
Hochsensible / Hochsensitive / Neurosensitive etwa auf Stress durch Tränen oder
Rückzug reagieren, können andere Personen das persönlich nehmen oder meinen,
dieser Mensch sei wohl “aus Porzellan”, und sich über “dieses überempfindliche Gehabe”
ärgern. Dabei sind es spezifische Reaktionen auf einen vorübergehenden Stau an
neurologischen Reizen, die noch unverarbeitet sind. Wenn dieser Stau größer wird, kann
schon ein kleiner Stress eine Reaktion auslösen, die für andere schwer verständlich ist.
Überreizung führt zu Reizbarkeit. Wer seine eigene Hochsensibilität nicht versteht und sie
seinem Umfeld nicht erklärt, riskiert also zahlreiche Missverständnisse - privat, in der
Partnerschaft und im Beruf.
Hochsensibilität als Ausrede
Hochsensibilität wird langsam zum Modethema. Zunehmend wird damit auch kokettiert,
man will sich damit als etwas Besonderes darstellen, oder es wird zu einer passiv-
aggressiven Einstellung. Oder man versucht, bestimmte Verhalten mit der
Hochsensibilität zu rechtfertigen, obwohl die Hochsensibilität, wie sie von Elaine Aron und
anderen definiert ist, im Bereich der Sinneswahrnehmungen und nicht der Verhalten liegt.
Daher auch der wissenschaftlicher Name “Sensorische Verarbeitungssensitivität”. Es
teilen zwar viele Menschen einen Hochsensibilität (laut Elaine Aron sind das 15 bis 20%
der Menschheit). Aber die Verhalten, die jede und jeder für sich daraus ableitet, hängen
von den eigenen, individuellen Entscheidungen ab und sind nicht durch eine
Hypersensitivität vorbestimmt.
Wenn jemand allzu gerne seine Hochsensibilität betont, kann es in manchen Fällen sein,
dass damit die anderen dazu gebracht werden sollen, dass sie sich an die Bedürfnisse
der vermeintlich hochsensiblen Person anpassen, sie mit Samthandschuhen anfassen,
nicht zu viel von ihr fordern. Das kann in Richtung Manipulation und sogar Narzissmus
gehen. „Nicht ich muss meinen Platz in der Welt finden, sondern alle anderen müssen
sich an mich anpassen. Ich bin ja so sensibel.“
Oder es wird daraus eine Ausredenkultur und Opferrolle gestrickt, die zwar zunächst
komfortabel ist. Aber wie jede selbst gebastelte Opferrolle läuft sie letztlich auf eine
Selbstentmachtung hinaus, statt die persönliche Souveränität zu stärken. Was bleibt am
Ende? Selbstverschuldeter Stillstand. Dem Selbstwertgefühl tut das nicht gut.
Hochsensibilitätsbeschreibungen als „Gefängnis“
Wenn man Literatur oder Webseiten über Hochsensibilität liest, steht dort immer wieder
viel Ähnliches. Es verfestigt sich ein bestimmtes Bild: sehr empathisch und fürsorglich
und liebevoll und manchmal etwas kindlich und in bisschen zu sensibel für diese harte
Welt. Doch das hat etwas von einem allzu „niedlichen“ Wunschbild. Wie bereits weiter
oben gesagt: Es lässt vieles aus, insbesondere viele Schattenseiten. Ich erlebe immer
wieder hochsensible Menschen, die zu diesem Bild nicht passen. Und ich kenne
vereinzelte Fälle, in denen hochsensible Menschen auch schon von Onlineplattformen für
Hochsensible gedrängt oder deren Beiträge zensiert wurden. Das hinterlässt den
Eindruck, dass hier ein bestimmtes Wunschbild in die Wirklichkeit gedrückt wird und zu
einem noch so jungen Konzept bereits Normen entstehen.
Doch Normen formen. So kann Folgendes passieren. Ein Mensch wurde sich kürzlich
seiner Hochsensibilität bewusst. Das hat oft etwas Befreiendes und sogar Sinnstiftendes.
Nun liest er einiges darüber und findet viele ähnliche Beschreibungen. Und so war er
eben noch in einer Befreiung begriffen, doch diese „Erzählung“ über Hochsensibilität wirkt
nun zunehmend wie eine neue Einschränkung: eine Beschreibung, in der man gefangen
sein kann. In manchen Fällen kann das dazu führen, dass man Teile, die nicht in diese
Beschreibung passen, als „nicht normal“ oder „nicht akzeptabel“ empfindet und sie wieder
verdrängt. Man will ja dazugehören. Oder man die eigenen Abweichungen sogar als
Grund dafür, sich doch nicht als hochsensibel zu sehen. Man war also gerade noch in
einer Selbstbefreiung begriffen - und landet doch wieder in einem neuen „Gefängnis“.
Man setzt Verdrängtes endlich frei - und verdrängt es dann doch wieder, nur aus anderen
Gründen - um sich selbst für das Wunschbild der Hochsensibilität passend zu machen.
Vollständigkeit des Wesens kann nur durch Integration aller Persönlichkeitsanteile
erreicht werden - auch derer, die nicht so „gesellschaftlich akzeptabel“ erscheinen. Ein
sich verfestigendes Wunschbild der Hochsensibilität unterstützt diese werden
Vollständigkeit nicht, sondern schafft neue Gründe, bestimmte Anteile von sich
abzuspalten.
Gerade tat man ein paar Schritte in Richtung persönlicher Souveränität - um dann wieder
kehrt zu machen und nur einen Konformismus gegen einen anderen einzutauschen, statt
das Erlebnis der eigenen, ganz individuellen Hochsensibilität fernab der Normen
zuzulassen und zu entdecken.
Ein instabiles Selbst(bild)
Das Selbst eines Menschen ist ein System. Ein gesundes System braucht gesunde
Grenzen.
Hochsensible können sich innerlich kaum von ihrem Umfeld isolieren. Sie saugen die
Reize aus dem Umfeld auf. Hochsensibilität ist in erster Linie eine Umweltsensitivität.
Durch diese Zwangsverbundenheit weht auch ein ständiger Luftzug durch die
Persönlichkeit. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verschwimmen. Das
Selbst(bild) kann instabil sein, weil äußere Einflüsse es immer wieder beeinflussen und in
eine andere Richtung verschieben. Was gestern noch als wahr und verlässlich erschien,
kann heute wieder in Frage stehen.
Die spirituell Interessierten mögen sagen, dass das Fließende dem wahren Selbst mehr
entspricht als das Feste. Das Fließende passt sich den Herausforderungen besser an. Es
gibt Schwierigkeiten zu überwinden, aber hinterher kehrt man zu einer inneren Heimat
zurück, einem Ort der Stabilität, einem festen Persönlichkeitskern.
Aber was ist, wenn da wenig Stabiles im Inneren zu sein scheint? Wenn sowohl die
innere als die äußere Welt als ständig unbeständig erlebt werden, kann es schwer
werden, bei sich diesen verlässlichen, stabilen Persönlichkeitskern zu finden, von dem
aus das Leben aufgebaut werden kann. Vielleicht wird irgendwann die Hoffnung
aufgegeben, doch einmal das eigene Leben meistern zu können.
Und wer die eigenen Grenzen nicht gut erkennen kann, kann das wahrscheinlich auch
nicht bei den anderen. So kann es sein, dass ein hochsensibler Mensch jemand anderen
in einem schlechten Zustand sieht und voller Empathie und Hilfsbereitschaft auf ihn
zugeht, aber Wut und Ablehnung kassiert. Warum? Weil es zu früh war: Wenn man
jemandem zu nahe kommt, ohne vorher eine belastbare Vertrauensbezieheung
aufzubauen, ist das ein unerlaubtes Eindringen in die Intimsphäre des Mitmenschen und
aktiviert dessen Selbstschutz. Wer diese Erfahrung der Ablehnung öfters macht, kann
irgendwann mit der Vermeidung von Nähe reagieren. Dabei wäre es sinnvoller, sich
darüber Gedanken zu machen,
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wo die eigenen Grenzen liegen, wo die Grenzen der anderen liegen,
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und dass es nicht einfach Nähe oder Nicht-Nähe gibt, sondern dass sich Nähe in
Stufen und ohne Hast aufbaut, genauso wie sich Grenzen in Stufen abbauen.
Konfliktvermeidung verhindert Fortschritte in Beziehungen
und Persönlichkeitsentwicklung
Der Hang zur Konfliktvermeidung entsteht insbesondere daraus, dass unangenehme
Situationen für Hochsensible tief erlebt werden und lange nachklingen, manchmal Tage,
Wochen, Jahre lang. Das Vermeiden von Konflikten kann beispielsweise dazu führen,
dass manche Hochsensiblen Unrecht sehen oder erleben und nichts tun, und dass sie
eine schädigende Situation durch Stillschweigen letztlich mittragen. Auf der Schattenseite
der Hochsensibilität kann eine gewisse Feigheit und Bereitschaft für Ausreden stehen -
und das sei hier mit viel Respekt gesagt, von jemandem, der das von sich selbst kennt.
Und wer auch eine Gehaltsverhandlung als Konfrontation sieht, setzt sich vielleicht nicht
für ein besseres Einkommen ein, erbringt zwar Leistung, bekommt dafür aber keine
gebührende Gegenleistung, und endet womöglich in der inneren Kündigung oder gerät in
den Kreis der Selbstabwertung.
In Beziehungen kann der Hang zur Konfliktvermeidung dazu führen, dass sich langsam
das Gift des Nichtgesagten und des Grolls ansammelt, statt dass erforderliche
Entwicklungen und Veränderungen angestoßen werden. Die Beziehung sollte einen
neuen Reifegrad erreichen, aber der Anstoß dazu kommt nicht. Gerade die Themen, die
man sich nicht anzusprechen traut, sind oft der Keim künftiger Krisen, an denen die
Beziehung letztlich zerfällt.
Beziehungen sind auf dem Pfad menschlicher Entwicklung wichtige
Fortbildungsangebote des Lebens. Vor lauter Konfliktvermeidung in Beziehungen kann es
sein, dass das Leben uns Lehren auf den Weg mitgeben will und diese Lehren nicht
ankommen. Und so verlaufen und enden dann aufeinander folgende Beziehungen immer
wieder auf ähnliche Weise. Wir sind dann vielleicht so darauf fokussiert, den
verschiedenen Partnern oder Partnerinnen die Schuld zu geben, dass wir für unsere
eigenen Verhaltensmuster blind bleiben. Und auch dafür, wie sehr die Verhalten der
anderen vielleicht auch Reaktion auf unsere eigenen sind. Wir sehen deutlich, was
andere uns antun, aber nicht die Schattenseite, nämlich was wir den anderen antun.
Dass da ein Beziehungsmuster vorliegt und abgelegt werden sollte, wird, wenn
überhaupt, erst nach mehreren schmerzlichen Durchgängen deutlich.
Die Gefahr der angestauten Ressentiments
Hochsensible Menschen erleben öfter als andere erniedrigende Situationen. Denn sie tun
sich schwerer als andere, ihre Grenzen zu setzen oder überhaupt zu sehen. Daher werde
diese Grenzen öfter übertreten – manchmal auf sehr grobe Weise. Oder der
hochsensivitive Mensch, oft kreativ, liefert Ideen und sieht, wie andere sie sich aneignen.
Weil bei Hochsensibilität Verletzungen ein Leben lang unausweichlich sind, und weil sie
lange nachklingen, ist es wichtig, zu lernen, mit ihnen umzugehen und sie kreativ
umzuwandeln. Ohne diese innere Alchemie, die diese negativen Stauungen in etwas
Höherwertiges verwandelt, können Selbstverachtung, Gefühle der Ohnmacht und
Ressentiments entstehen.
Unangenehme bis traumatische Erlebnisse führen vor allem dann zu Langzeitfolgen,
wenn dabei auch Machtlosigkeit bzw. Ohnmacht erlebt wird. Dann setzen sie sich
nämlich erst recht in der bewussten oder unbewussten Erinnerung fest. Es lauern
möglicherweise Traumaspätfolgen und Depressionen. Oder es entsteht ein Gefühl, dem
Leben weitgehend ausgeliefert zu sein, statt ihm selbstwirksam zu begegnen.
Und Ressentiments können sich anstauen, zu Vorurteilen und schlimmstenfalls
Rachegelüsten werden. Die müssen zwar nicht ausgelebt werden. Aber manchmal
werden sie es. Hochsensibilität schließt keineswegs unsensibles Handeln aus. Und sie
schließt auch Gewalt nicht aus, gegen andere oder sich selbst.
Um dem beizukommen, ist ein ehrlicher Blick auf diese verdrängten Regungen in den
dunklen Winkeln der Persönlichkeit, also “Schattenarbeit” nötig.
Die Gefahr der Lebensvermeidung
Dass das Erleben unangenehmer Situationen oder intensiver Reizfluten so anstrengend
ist, kann zur Meidung einer wachsenden Zahl an Situationen führen, nur weil dort die
theoretische Möglichkeit besteht, sich schlecht zu fühlen. So könnte man viel Spaß auf
der nächsten Party haben und interessante Leute treffen, geht aber gar nicht mehr zu
Partys. Am Ende können wesentliche Aspekte und ganze Bereiche des Lebens in die
zunehmend lebensfressende Vermeidungszone verbannt sein. Es wird nur noch ein
weitgehend verstecktes Dasein geführt. Der Mensch kann sich dadurch weit weg von
seiner Berufung bringen, und auch interessante Begegnungen aufgeben. Oder sein
Leben kann zum Stillstand kommen – bis hin zur Selbstaufgabe oder zum Suizid als
ultimative Lebensvermeidung.
Diese Lebensvermeidung muss nicht, kann aber mit einer Opferhaltung oder Verbitterung
einher gehen. Die eigene Lebensvermeidung wird erträglicher gemacht, indem anderen
oder der ganzen Gesellschaft die Schuld gegeben wird. Verpasste Begegnungen aller Art
tun weniger weh, wenn man sich sagt, dass die anderen ohnehin Idioten sind. Solch eine
Einstellung kann auch eine Belastung für Nahestehende sein, die der hochsensiblen
Person Lebendigkeit und das Erleben ihrer Berufung wünschen, aber damit immer wieder
ins Leere laufen.
Es kann aber auch sein, dass es kaum Nahestehende gibt, sondern vor allem
Einsamkeit. Oder vielleicht wird ein Angepasstsein bis hin zum Konformismus gelebt. Die
eigene Kreativität findet keinen Platz mehr und diese Abkehr wird durch Ausreden
erträglicher gemacht - oder durch das üppige digitale Unterhaltungsangebot, das die
Lebensvermeidung deutlich leichter (und verlockender) macht.
Die Lösung besteht in der Regel darin, sich genau dem zuzuwenden, das man bisher
vermied, und beschließt, den damit verbundenen Schmerz für eine Weile auszuhalten,
bis er ausklingen kann. Oft ist das gar nicht so schlimm: Sobald man etwas anschaut, vor
dem man Angst hat, wird es ein ganzes Stück kleiner. Und vielleicht will es uns nicht
einmal schaden und es war alles nur ein Missverständnis.
Wenn der hochsensible Mensch nicht irgendwann über seinen Schatten springt und
wieder zur Selbstwirksamkeit und persönlichen Souveränität findet, kann er in die innere
Leere bis hin zur Depression rutschen.
Eine schwierige Situation überwunden und gemeistert zu haben ist eines der höchsten
Gefühle. Den Mut dafür aufbringen fällt leichter, wenn man Unterstützung hat - aus dem
privaten Kreis oder Therapeuten bzw. Coachs.
Hochsensibilität und Alkohol
Zu diesem Thema gibt es leider keine Studien. Aber es könnte gut sein, dass
Hochsensible überdurchschnittlich oft zum Alkohol greifen (so wie das offenbar bei
Hochbegabten auch der Fall ist). Warum? Mehrere Gründe sind möglich:
•
Die Empfindungen können zu stark sein. Alkohol schafft schnelle Abhilfe, dämpft das
Erleben, nimmt die schärferen Kannten aus den Empfindungen heraus - allerdings mit
allen Nachteilen des Alkohols für Körper und Geist.
•
Menschen, die ihrer Hochsensibilität nicht bewusst sind, können Alkohol als
Bewältigungsstrategie wählen. Wenn also zu viel Alkohol im Spiel ist, sollte geprüft
werden, ob nicht eine unerkannte Hochsensibilität vorliegt. Die ganz wesentliche
Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität könnte sogar der Schlüssel zur Abkehr vom
Alkohol sein. Möglicherweise ist das bei Männern öfter der Fall, als bei Frauen. Denn
die mangelnde kulturelle Akzeptanz männlicher Hochsensibilität verstärkt noch den
Hang dazu, sich zu betäuben.
Die Suche nach dem Selbstvertrauen am falschen Ort
Vielen hochsensiblen Menschen mangelt es an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl,
und sie kommen in die Spirale der Vermeidungen und ärgern sich vielleicht darüber, dass
sie so wenig Selbstvertrauen besitzen. Es kann der Fehlglaube entstehen,
Selbstvertrauen könne man sich vielleicht herbei lesen oder durch Webinare oder
Motivationswochenenden nachhaltig aufbauen. Aber wie soll wahres Selbstvertrauen
etwas sein, das von außen kommen kann? Das wäre doch nur eine Abhängigkeit von den
anderen und davon, was sie tun, sagen und denken. In Wirklichkeit hat es mit Handeln
und mit dem Aufbau innerer Einheit zu tun.
Um dem Mangel an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl entgegen zu wirken, sollten
Hochsensible
•
Mut fassen,
•
ins Handeln kommen,
•
dabei Lehren sammeln und Fähigkeiten aufbauen
•
und entdecken, welche inneren Uneinigkeiten durch das Handeln aufgedeckt werden
und wieder versöhnt werden wollen.
Manche Menschen sind durch das Bewahren ihres Urvertrauens mit Selbstvertrauen
gesegnet. Für die anderen entsteht es aus dem Handeln und der dabei gemachten
Erfahrung, dem Leben mit zunehmender Kompetenz zu begegnen. Je mehr Situationen
gemeistert werden, desto mehr Vertrauen entsteht, auch mit dem Rest fertig zu
werden. Und es ist ein nachhaltiges Selbstvertrauen, weil es von innen entsteht.
Und jede festgestellte Fähigkeit, jede aufgedeckte innere Ressource, jede
Erfahrung und jede Freude am Können ist wie ein Puzzlestück. Irgendwann sind
ausreichend Puzzleteile vorhanden, damit sich ein Gesamtbild abzeichnet, das den
eigenen Weg weist.
Selbstvertrauen entsteht,
•
wenn man sich auf den eigenen Weg begibt,
•
eine Hürde nach der anderen meistert und dabei wohlwollend auf die eigenen
Anfängerfehler schaut,
•
das eigene Kompetenzerleben und die eigene Freude am Können aufbaut
•
und dadurch die eigene Weltreichweite Schritt für Schritt ausdehnt.
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