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Inhalt:
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Die Kehrseiten der Empathie
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Hochsensible und Narzissten: leider ein Klassiker
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Vantage Sensitivity / Differential Susceptibility
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Hochsensibilität wird vom Umfeld nicht immer gut erlebt
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Schwieriger Umgang mit Kritik
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Hochsensibilität als Ausrede und Opferrolle
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Hochsensibilitätsbeschreibungen als „Gefängnis“
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Ein instabiles Selbst(bild)
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Konfliktvermeidung verhindert Fortschritte in Beziehungen und
Persönlichkeitsentwicklung
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Die Gefahr der angestauten Ressentiments
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Die Gefahr der Lebensvermeidung
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Hochsensibilität und Alkohol
Die Beschreibungen der Menschen mit Hochsensibilität (HSP - hochsensible Personen),
die im Netz kursieren, scheinen manchmal fast engelhafte Wesen abzubilden, ein
bisschen zu verletzlich für diese harte Welt. Wenn sie von Hochsensiblen geschrieben
sind, sind manche Beschreibungen auch nicht frei von Selbstbeweihräucherung (und
vielleicht ist auch diese Webseite nicht ganz frei davon). Tatsächlich birgt die
Hochsensibilität etliche hochwertige Eigenschaften, von denen die Welt dringend mehr
bräuchte. Doch so einfach kann es nicht sein. Wo Licht ist, ist auch Dunkelheit. Man
kann vom eigenen “Schatten” wegschauen, d.h., von den Seiten, die man bei sich selbst
verdrängt, weil sie dem Selbstbild schaden. Doch das Wegschauen hat einen Preis. Den
eigenen Schatten sollte man besser im Blickfeld behalten, sonst wirkt er aus dem
Hintergrund, projiziert sich auf andere, oder findet andere Wege, unser Leben auf
ungünstige Weise zu beeinflussen.
Derzeit gibt es noch sehr wenig Forschung über die dunkle Seite der Hochsensibilität.
Hier sind ein paar mögliche Schattenseiten aufgeführt.
Die Kehrseiten der Empathie
Eine der wichtigsten Eigenschaften, die in Verbindung mit Hochsensibilität genannt wird,
ist Empathie. Empathie wird zwar oft gefeiert. Sie ermöglicht, sich in andere Menschen
einzufühlen und ein Echo ihrer Empfindungen zu fühlen. Teilweise erlaubt Empathie
sogar, unterdrückte Gefühle des Gegenübers zu „empfangen“. Das kann in Coaching und
Therapie sehr sinnvoll eingesetzt werden, um den Klienten diesen unbewussten oder
verdrängten Teil ihres Innenlebens zu spiegeln: So können sie dieser Anteile bewusst
werden und sie sich wieder aneignen.
Neben der Gefühlsebene (emotionale Empathie) hat Empathie auch eine kognitive
Ebene: In einer fortgeschrittenen Form ermöglicht sie, sich gedanklich in die andere
Person hinein zu versetzen, statt nur im unmittelbaren Fühlen zu bleiben. (Vgl. Serge
Tisseron, „Empathie et Manipulation“, Paris, 2020.) Denn die emotionale Empathie richtet
sich vor allem auf Menschen und Objekte, in denen wir uns ein Stück weit selbst
wiedererkennen. Die kognitive Empathie hingegen erweitert den Kreis: Mit ihrer Hilfe
können wir uns in die Lebensumstände völlig anderer Menschen hinein denken. Auf diese
Weise verstehen wir sie besser, statt sie nach den eigenen Maßstäben, aus dem Gefühl
des Moments heraus, oder nach gesellschaftlichen Programmierungen zu be- oder
verurteilen.
Erst mit der kognitiven Empathie bekommt die Empathie eine echte
Unterscheidungsfähigkeit. Manche Menschen sind uns zu fremd oder zu
unsympathisch, damit unsere emotionale Empathie “anspringt”. Und erst die kognitive
Empathie erklärt uns, warum sie dennoch unsere Empathie verdienen.
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Vielleicht irritiert uns jemand durch eigenartige Verhaltensweisen. Es baut sich keine
Empathie auf. Wir wünschten, diese Person wäre weg. Doch dann erfahren wir, durch
welche Traumata sie zu dem wurde, was sie heute ist. Dieses Wissen baut eine
kognitive Empathie auf, die dann auch einen Raum für emotionale Empathie herstellt.
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Und umgekehrt kann uns unsere kognitive Empathie auch warnen, dass wir gerade
unsere emotionale Empathie den falschen Personen zukommen lassen, etwa weil
unser Denken uns sagt, dass wir gerade über unser Fühlen manipuliert werden.
Empathie hat aber auch Kehrseiten. Ob Empathie gut oder nicht gut ist, hängt davon
ab, zu welchem Zweck sie eingesetzt wird.
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Erst einmal schließt eine emotionale Empathie für Nahestehende keineswegs eine
starke Abneigung gegenüber Fremden aus. Die hohe Empathie gegenüber der
eigenen Gruppe senkt womöglich die Empathie gegenüber Außenstehenden. Diese
Abneigung muss durch kognitive Empathie korrigiert werden, also dadurch, dass man
sich in den anderen nicht nur hinein fühlt, sondern auch hinein denkt.
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Empathie kann ausgenutzt werden. So haben zum Beispiel alle Menschen in
helfenden Funktionen und Berufen ihre Geschichten darüber, wie bestimmte Kunden,
Klienten und Patienten aus reinem Eigennutz an ihre Empathie appelliert haben.
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Auch Internet-Propaganda nutzt gern die „Sympathie für Opfer“, etwa bei Konflikten,
um die öffentliche Meinung auf die eigene Seite zu ziehen.
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Und Empathie ist eine Informationsquelle. Was, wenn eine empathische Person
zugleich eine manipulative Seite oder eine psychische Störung hat? Sie kann dann
ihre Empathie als wirksames Instrument benutzen, um Informationen über das intime
Innenleben, die Schwächen, Ängste und Sehnsüchte anderer Menschen zu gewinnen
und sie wirksamer manipulieren. Empathie ist wie jedes andere Werkzeug. Sie kann
Schaden anrichten, wenn sie mit unlauteren oder eigennützigen Absichten eingesetzt
wird.
Hochsensible und Narzissten: leider ein Klassiker
Hochsensible Menschen tendieren dazu, mit Narzissten allen Geschlechts in
Partnerschaften zusammenzukommen. Die Zuwendung der hochsensiblen Person zieht
Narzissten an und gibt ihnen Nahrung. Wenn der hochsensible Mensch eines Tages
endlich seine Hoffnung aufgibt, sein Gegenüber „retten“ oder ändern zu können, besteht
die Beziehung schon eine Weile und die Überwindung zur Trennung fällt umso schwerer.
Die Beziehung ist zwar ungesund, aber auch vertraut. Irgendeine weitere Ausrede findet
sich immer, um sie nicht zu beenden.
Hochsensible Menschen können nur einmal ihre Grenzen nur schwer ziehen, weil sie sie
selbst nicht gut kennen. Sie richten sich häufig nach außen aus, mitunter bis hin zur
Selbstaufopferung. Das Gegenstück dazu wäre, ein reiferes, autonomeres, mit sich selbst
ehrlicheres Selbst aufzubauen, ein höheres Bewusstsein der eigenen Grenzen und der
eigenen Werte zu entwickeln und dafür einzustehen, damit man nicht mehr über die
eigene Gefühlswelt manipulierbar ist.
Denn es steckt womöglich auch etwas Kindliches, manchmal sogar Trotziges in dieser
Außenorientierung des Selbst. Man erkauft sich vielleicht einen gewissen Grad an
Anerkennung und Mitgefühl im Umfeld, manipuliert es womöglich durch demonstrative
Fürsorge und Aufopferung, um in einer komplexen Geschichte die Rolle des „guten
Menschen“ zu behalten. Aber dahinter steht auch die Weigerung, einen höheren und
angemesseneren Grad der Reife und persönlichen Souveränität anzustreben.
In der Entscheidung, jemanden “retten” oder auf andere Weise verändern oder “heilen”
zu wollen ohne dafür einen Auftrag erhalten zu haben, liegt auch etwas Übergriffiges. In
dem Glauben an die eigene Kraft, den anderen Menschen “heilen” zu können, liegt
vielleicht auch etwas… Narzisstisches. (“Ich weiß besser als dieser Mensch, was für ihn
gut ist.”) Eine Studie der TU Dresden (Jauk, Knödler, et al., 2022) zeigte etwa, dass HSP,
die den Erzählungen glauben, ihre Hochsensibilität sei eine „Superkraft“, Züge von
„hypersensitivem Narzissmus“ oder Befindlichkeitsnarzissmus aufweisen.
Man mag sagen, diese Aufopferung und Außenorientierung sei vielleicht traumatisch
bedingt, weil das eigene Selbst zu schwach ist. Aber ist ein pathologischer Narzissmus
das nicht auch? Hier wird ein Tanz zu zweit getanzt, zu zweit genährt, zu zweit verlängert.
Solange keiner von beiden den Tanz aufgibt, hat der andere auch keinen Grund,
aufzuhören.
Das paradoxe Geschenk der Narzissten an ihr empathisches Gegenüber besteht darin,
ihm das Leben so zunehmend unerträglich zu machen, bis er oder sie endlich den
überfälligen Reifungssprung tätigt: die Grenzen des eigenen Selbst besser definieren und
damit narzisstischen Manipulationstechniken nicht mehr so viel Windfläche bieten.
Übrigens ziehen Hochsensible nicht nur Narzissten an, sondern auch andere
“Energiesauger”, die sich an ihnen nähren. Das können etwa Menschen sein, die sehr
Ich-zentriert sind, gerne reden und das Zuhören lieber den anderen überlassen. Wenn
der hochsensible Mensch sich nicht dazu überwindet, diesen Menschen die Grenzen zu
zeigen, wird er zur “Energietankstelle” für Egozentriker aller Couleur. Auch hier besteht
das Risiko, ungesunde Situationen durch Mitwirkung zu stützen.
Übrigens: Der Vorwurf des “Narzissmus” wird heutzutage inflationär gebraucht, um
eigentlich Egozentrik zu beschreiben. Zum Beispiel wird nach einer beendeten Beziehung
die gesamte Verantwortung für das Scheitern auf die andere Person abgestreift, indem
man sagt, er oder sie sei halt narzisstisch. Klinische Narzissten gibt es gar nicht so viele,
dafür viel mehr Egozentriker. Überhaupt sollte man vorsichtig damit sein, psychologische
Diagnosen über Mitmenschen aufzustellen.
Vantage Sensitivity / Differential Susceptibility
Eine Eigenschaft der Hochsensibilität liegt in der sog. „Vantage Sensitivity“ oder
“Differential Susceptibility”, also einer intensiveren Reaktion auf positive und negative
Umfelder:
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Hochsensible Menschen werden von einem wohlgesinnten und unterstützenden
Umfeld überdurchschnittlich positiv beeinflusst.
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Jedoch wirkt ein negatives Umfeld auch überdurchschnittlich schädlich auf sie.
“Vantage Sensitivity” / “Differential Susceptibility” bedeutet also eine erhöhte Sensitivität
auf das Umfeld - im Guten wie im Schlechten.
Die negative „Vantage Sensitivity“ kann den Menschen tatsächlich in große Tiefen fallen
lassen, wenn er seinem negativen Umfeld ausgeliefert bleibt (oder ausgeliefert zu sein
glaubt). Die Gefahr besteht darin, den Fokus zu sehr auf die negative Seite zu setzen. So
übersieht man, dass ein schlechter innerer Zustand kein unausweichliches Schicksal sein
muss, und geht vielleicht zu selbstzerstörerischen Verhalten über.
Doch auch bei einem zunächst traumatischen Werdegang kann allein schon ein Wechsel
in ein positiveres Umfeld bei Hochsensitiven große Heilkraft entfalten. “Vantage
Sensitivity” bringt also auch eine verstärkte Resilienz mit sich.
(Übrigens ist die Fokussierung auf die Schattenseite der “Vantage Sensitivity”
wahrschenlich auch ein Grund, warum auch heute noch Teile der Psychologie
Hochsensibilität mit “Neurotizismus” verwechseln und sagen, Hochsensibilität gebe es an
sich gar nicht. Neurotizismus ist eine der fünf Persönlichkeitsmerkmale aus dem “Big
Five”-Persönlichkeitsmodell und beschreibt einen Hang zu negativen Emotionen.)
Hochsensibilität wird vom Umfeld nicht immer gut erlebt
Hochsensitive Kleinkinder können für ihre Eltern sehr anstrengend sein. Die Kinder
müssen erst lernen, mit den starken Reizfluten umzugehen. Sie reagieren
möglicherweise mit viel Weinen und Schreien und fordern ein mehr Beruhigung und
Geborgenheit. Erst später kommt die Sprache hinzu und ermöglicht den Kindern, die
Dinge zu relativieren, und den Eltern, ihnen Erklärungen, beruhigende Geschichten und
Tipps zu liefern.
Nicht alle Eltern haben die mentalen Werkzeuge oder einfach die Nerven, um damit gut
umgehen zu können. Wenn sie mit dem Thema der Hochsensibilität nicht vertraut sind,
können sie das Gefühl bekommen, ihr Kind stelle sich an und wolle ihnen das Leben
schwer machen, vielleicht als kleiner Tyrann einen Machtkampf gegen sie austragen.
Dabei sind die Kinder einfach von einer Reizflut überfordert und müssen den Umgang
damit erst noch trainieren. Im späteren Leben können sie sehr zugewandte Kinder sein,
an denen ihre Eltern viel Freude haben - vorausgesetzt, es ist am Anfang nicht zu vieles
kaputt gegangen.
Auch im späteren Leben besteht reichlich Raum für Missverständnisse. Wenn
Hochsensible / Hochsensitive / Neurosensitive etwa auf Stress durch Tränen oder
Rückzug reagieren, können andere Personen das persönlich nehmen oder meinen,
dieser Mensch sei wohl “aus Porzellan”, und sich über “dieses überempfindliche Gehabe”
ärgern. Dabei sind es spezifische Reaktionen auf einen vorübergehenden Stau an
neurologischen Reizen, die noch unverarbeitet sind. Wenn dieser Stau größer wird, kann
schon ein kleiner Stress eine Reaktion auslösen, die für andere schwer verständlich ist.
Überreizung führt zu Reizbarkeit. Wer seine eigene Hochsensibilität nicht versteht und sie
seinem Umfeld nicht erklärt, riskiert also zahlreiche Missverständnisse - privat, in der
Partnerschaft und im Beruf.
Schwieriger Umgang mit Kritik
Viele Hochsensible können nicht gut damit umgehend, wenn sie kritisiert werden. Auch
wenn die Kritik berechtigt ist und sachlich bleibt und nicht als persönlicher Angriff gemeint
ist. Kritik sitzt - oft tiefer, als sie sollte. Wenn sich die hochsensible Person gut selbst
regulieren kann, kann sie die Kritik schließlich einordnen und versachlichen. Aber unreife
oder stark verletzte Persönlichkeiten können dann unwirsche, nicht angemessene
Reaktionen haben und verletzend werden. Oder aus mangelnder Selbstregulierung
fordern sie dann dem Umfeld ab, dass es sie reguliert und tröstet. Statt die eigenen
Verhalten zu hinterfragen, die vielleicht zu Recht kritisiert wurden, werden dann lieber
Türen geknallt oder man geht in die selbst verordnete Isolation.
Hochsensibilität als Ausrede und Opferrolle
Hochsensibilität wird langsam zum Modethema. Zunehmend wird damit auch kokettiert.
Man will sich damit als etwas Besonderes darstellen. Oder es wird zu einer passiv-
aggressiven Einstellung. Oder man versucht, bestimmte Verhalten mit der
Hochsensibilität zu rechtfertigen, obwohl die Hochsensibilität, wie sie von Elaine Aron und
anderen definiert ist, im Bereich der Sinneswahrnehmungen und nicht der Verhalten liegt.
Daher auch der wissenschaftlicher Name “Sensorische Verarbeitungssensitivität”. Es
teilen zwar viele Menschen einen Hochsensibilität (laut Elaine Aron sind das 15 bis 20%
der Menschheit). Aber die Verhalten, die jede und jeder für sich daraus ableitet, sind völlig
individuell und keineswegs vorbestimmt. Das eigene Sein zu ändern, ist nicht leicht. Aber
das eigene Verhalten zu ändern, liegt durchaus im Machtbereich eines jeden Menschen.
Wenn jemand allzu gerne seine Hochsensibilität betont, kann es in manchen Fällen sein,
dass damit die anderen dazu gebracht werden sollen, dass sie sich an die Bedürfnisse
der vermeintlich hochsensiblen Person anpassen, sie mit Samthandschuhen anfassen,
nicht zu viel von ihr fordern. Das kann in Richtung Manipulation und sogar
Befindlichkeitsnarzissmus (engl. vulnerable narcissism) gehen. „Nicht ich muss meinen
Platz in der Welt finden, sondern alle anderen müssen sich an mich anpassen. Ich bin ja
so sensibel.“
Außerdem sehen sich manche Menschen als hochsensibel, weil sie sich von der Welt
überfordert fühlen, sind aber gar nicht hochsensibel. Ihre Überforderung kommt daher,
dass sie sich zu viel und zu lange in digitalen Scheinwelten sozialisiert haben. Ihre
Sozialisierung in der echten Welt ist damit verspätet und bruchstückhaft, was zu
Orientierungslosigkeit und Ängstlichkeit führen kann. Je mehr Menschen sich aber aber
fälschlicherweise als hochsensibel bezeichnen, desto leichter fällt es manchen,
Hochsensibilität als „Modewort“ abzuwerten und zu bestreiten, dass es sie wirklich gibt.
Alternativ kann die Überzeugung, dass man als hochsensible Person „nun mal so ist wie
man ist“, auch zur Überzeugung führen, dass Veränderung kaum möglich ist und
deswegen auch nicht versucht zu werden braucht. Man über-identifiziert sich als HSP, als
würde das alle anderen Persönlichkeitselemente überlagern und bestimmen, und sieht
sich in ständiger Gefahr der Überforderung. Der Fokus geht auf alles, was vermieden
werden muss. So verkleinert man ohne Not die Möglichkeit der eigenen
Persönlichkeitsentwicklung: Man bildet sich unüberwindbare Mauern um die eigene
Komfortzone herum ein, die gar nicht da sind.
Oder es wird daraus eine Ausredenkultur und Opferrolle gestrickt, die zwar zunächst
komfortabel ist. Aber erstens muss jede Opferrolle auch eine Tätergruppe definieren
(denn: ohne Täter keine Opfer) und damit Menschen in eine Ecke stellen, in die sie
wahrscheinlich nicht gehören. Zweitens läuft jede selbst gebastelte Opferrolle letztlich auf
eine Selbstentmachtung und Selbstentmündigung hinaus, statt die persönliche
Souveränität zu stärken.
Was bleibt am Ende? Selbstverschuldeter Stillstand. Dem Selbstwertgefühl tut das nicht
gut.
Hochsensibilitätsbeschreibungen als „Gefängnis“
Wenn man Literatur oder Webseiten über Hochsensibilität liest, steht dort immer wieder
viel Ähnliches. Es verfestigt sich ein bestimmtes Bild: sehr empathisch und fürsorglich
und liebevoll und manchmal etwas kindlich und ein bisschen zu sensibel für diese harte
Welt. Doch das hat etwas von einem allzu „niedlichen“ Wunschbild. Gelegentlich taucht
auch die Vokabel „Superkraft“ bzw. „Superpower“ auf.
Wie bereits weiter oben gesagt: Ein solches Bild lässt vieles aus, insbesondere viele
Schattenseiten. Ich erlebe immer wieder hochsensible Menschen, die zu diesem Bild
nicht passen. Und ich kenne vereinzelte Fälle, in denen HSP auch schon von
Onlineplattformen für HSP gedrängt wurden. Oder ihre Beiträge wurden zensiert, weil sie
nicht so gut in die „Erzählung“ passten. Das hinterlässt den Eindruck, dass hier ein
bestimmtes, positives Wunschbild in die Wirklichkeit gedrückt wird und zu einem noch so
jungen Konzept bereits Normen entstehen.
Doch Normen formen. So kann Folgendes passieren. Ein Mensch wird seiner
Hochsensibilität bewusst. Das hat oft etwas Befreiendes und sogar Sinnstiftendes: das
Versprechen einer Art Heimat. Nun liest er einiges darüber und findet viele
Beschreibungen, die einander sehr ähneln. Und so war er eben noch in einer
Selbstbefreiung begriffen, doch diese „Erzählung“ über Hochsensibilität wirkt nun
zunehmend wie eine neue Einschränkung: eine Beschreibung, in der man gefangen sein
kann. Eine Norm. Teile von sich selbst, die nicht zur Norm passen, werden verdrängt oder
verheimlicht. Man will ja dazugehören, auch wenn man dabei unfrei bleibt - nur diesmal
aus neuen Gründen.
Oder man nimmt die eigenen Abweichungen von der Norm als Grund dafür, sich doch
nicht als hochsensibel zu sehen. Eben witterte man Befreiung und glaubte, endlich eine
menschliche Gemeinschaft gefunden zu haben, der man sich zurechnen könnte. Doch
die Zutrittskriterien, die auf der Tür stehen, sagen: Offenbar gehörst du auch hier nicht
dazu.
Echte Persönlichkeitsentwicklung kann nur durch Integration aller Persönlichkeitsanteile
erreicht werden - auch derer, die nicht so „gesellschaftlich akzeptabel“ erscheinen. Ein
Wunschbild der Hochsensibilität hilft nicht, vollständig zu werden, sondern schafft neue
Gründe, bestimmte Anteile von sich abzuspalten, weil sie nicht zum Wunschbild passen.
Gerade tat man ein paar Schritte in Richtung persönlicher Souveränität - um dann wieder
kehrt zu machen und nur einen Konformismus gegen einen anderen einzutauschen, statt
das Erlebnis der eigenen, ganz individuellen Hochsensibilität fernab der Normen
zuzulassen und zu entdecken.
Ein instabiles Selbst(bild)
Das Selbst eines Menschen ist ein System. Ein gesundes System braucht gesunde
Grenzen.
Hochsensible können sich innerlich kaum von ihrem Umfeld isolieren. Sie saugen die
Reize aus dem Umfeld auf. Hochsensibilität ist in erster Linie eine Umweltsensitivität.
Durch dieses ständige Angeschlossensein and das Umfeld weht auch ein ständiger
Luftzug durch die Persönlichkeit. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt
verschwimmen. Das Selbst(bild) kann instabil sein, weil äußere Einflüsse es immer
wieder beeinflussen und in eine andere Richtung verschieben. Was gestern noch als
wahr und verlässlich erschien, kann heute wieder in Frage stehen.
Die spirituell Interessierten mögen sagen, dass das Fließende dem wahren Selbst mehr
entspricht als das Feste. Das Fließende passt sich den Herausforderungen besser an,
denn es kann hinaus um die Herausforderungen zu überwinden, und hinterher auch
wieder zu einer inneren Heimat, einem inneren Ort der Stabilität, einem festen
Persönlichkeitskern.
Aber was ist, wenn da wenig Stabiles im Inneren zu sein scheint? Wenn sowohl die
innere als die äußere Welt als ständig unbeständig erlebt werden, kann es schwer
werden, bei sich diesen stabilen Persönlichkeitskern zu finden, von dem aus das Leben
aufgebaut werden kann. Vielleicht wird irgendwann die Hoffnung aufgegeben, doch
einmal das eigene Leben meistern zu können.
Und wer die eigenen Grenzen nicht gut erkennen kann, kann das wahrscheinlich auch
nicht bei den anderen. So kann es sein, dass ein hochsensibler Mensch jemand anderen
in einem schlechten Zustand sieht und voller Empathie und Hilfsbereitschaft auf ihn
zugeht, aber Wut und Ablehnung kassiert. Warum? Weil es zu früh war: Wenn man
jemandem zu nahe kommt, ohne vorher eine belastbare Vertrauensbezieheung
aufzubauen, ist das ein unerlaubtes Eindringen in die Intimsphäre des Mitmenschen und
aktiviert dessen Selbstschutz. Wer diese Erfahrung der Ablehnung öfters macht, kann
irgendwann mit der Vermeidung von Nähe reagieren. Dabei wäre es sinnvoller, sich
darüber Gedanken zu machen,
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wo die eigenen Grenzen liegen, wo die Grenzen der anderen liegen,
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und dass es nicht einfach Nähe oder Nicht-Nähe gibt, sondern dass sich Nähe in
Stufen und ohne Hast aufbaut, genauso wie sich Grenzen in Stufen abbauen.
Konfliktvermeidung verhindert Fortschritte in Beziehungen
und Persönlichkeitsentwicklung
Der Hang zur Konfliktvermeidung entsteht insbesondere daraus, dass unangenehme
Situationen für Hochsensible tief erlebt werden und lange nachklingen, manchmal Tage,
Wochen, Jahre lang. Das Vermeiden von Konflikten kann beispielsweise dazu führen,
dass manche Hochsensiblen Unrecht sehen oder erleben, aber nichts tun, und dass sie
eine schädigende Situation sozusagen mittragen. Auf der Schattenseite der
Hochsensibilität kann eine gewisse Feigheit und Bereitschaft für Ausreden stehen - und
das sei hier mit viel Respekt gesagt, von jemandem, der das von sich selbst kennt.
Und wer auch eine Gehaltsverhandlung als Konfrontation sieht, setzt sich vielleicht nicht
für ein besseres Einkommen ein, erbringt zwar Leistung, bekommt dafür aber keine
gebührende Gegenleistung, und endet womöglich in der inneren Kündigung oder gerät in
den Kreis der Selbstabwertung.
In Beziehungen kann der Hang zur Konfliktvermeidung dazu führen, dass sich langsam
das Gift des Nichtgesagten und des Grolls ansammelt, statt dass erforderliche
Entwicklungen und Veränderungen angestoßen werden. Die Beziehung sollte einen
neuen Reifegrad erreichen, aber der Anstoß dazu kommt nicht. Gerade die Themen, die
man sich nicht anzusprechen traut, sind oft der Keim künftiger Krisen, an denen die
Beziehung letztlich zerfällt.
Beziehungen sind auf dem Pfad menschlicher Entwicklung wichtige
Fortbildungsangebote des Lebens. Vor lauter Konfliktvermeidung in Beziehungen kann es
sein, dass das Leben uns Lehren auf den Weg mitgeben will und diese Lehren nicht
ankommen. Und so verlaufen und enden dann aufeinander folgende Beziehungen immer
wieder auf ähnliche Weise. Wir sind dann vielleicht so darauf fokussiert, den
verschiedenen Partnern oder Partnerinnen die Schuld zu geben, dass wir für unsere
eigenen Verhaltensmuster blind bleiben. Und auch dafür, wie sehr die Verhalten der
anderen vielleicht auch Reaktion auf unsere eigenen sind. Wir sehen deutlich, was
andere uns antun, aber nicht die Schattenseite, nämlich was wir den anderen antun.
Dass da ein Beziehungsmuster vorliegt und abgelegt werden sollte, wird, wenn
überhaupt, erst nach mehreren schmerzlichen Durchgängen deutlich.
Die Gefahr der angestauten Ressentiments
Hochsensible Menschen erleben öfter als andere erniedrigende Situationen. Denn sie tun
sich schwerer als andere, ihre Grenzen zu setzen oder überhaupt zu sehen. Daher werde
diese Grenzen öfter übertreten – manchmal auf sehr grobe Weise. Oder der
hochsensivitive Mensch, oft kreativ, liefert Ideen und sieht, wie andere sie sich aneignen.
Weil bei Hochsensibilität Verletzungen ein Leben lang unausweichlich sind, und weil sie
lange nachklingen, ist es wichtig, zu lernen, mit ihnen umzugehen und sie kreativ
umzuwandeln. Ohne diese innere Alchemie, die diese negativen Stauungen in etwas
Höherwertiges verwandelt, können Selbstverachtung, Gefühle der Ohnmacht und
Ressentiments entstehen.
Unangenehme bis traumatische Erlebnisse führen vor allem dann zu Langzeitfolgen,
wenn dabei auch Machtlosigkeit bzw. Ohnmacht erlebt wird. Dann setzen sie sich
nämlich erst recht in der bewussten oder unbewussten Erinnerung fest. Es lauern
möglicherweise Traumaspätfolgen und Depressionen. Oder es entsteht ein Gefühl, dem
Leben weitgehend ausgeliefert zu sein, statt ihm selbstwirksam zu begegnen.
Und Ressentiments können sich anstauen, zu Vorurteilen und schlimmstenfalls
Rachegelüsten werden. Die müssen zwar nicht ausgelebt werden. Aber manchmal
werden sie es. Hochsensibilität schließt keineswegs unsensibles Handeln aus. Und sie
schließt auch Gewalt nicht aus, gegen andere oder sich selbst.
Um dem beizukommen, ist ein ehrlicher Blick auf diese verdrängten Regungen in den
dunklen Winkeln der Persönlichkeit, also “Schattenarbeit” nötig.
Die Gefahr der Lebensvermeidung
Dass das Erleben unangenehmer Situationen oder intensiver Reizfluten so anstrengend
ist, kann zur Meidung einer wachsenden Zahl an Situationen führen, nur weil dort die
theoretische Möglichkeit besteht, sich schlecht zu fühlen. So könnte man viel Spaß auf
der nächsten Party haben und interessante Leute treffen, geht aber gar nicht mehr zu
Partys. Am Ende können wesentliche Aspekte und ganze Bereiche des Lebens in die
zunehmend lebensfressende Vermeidungszone verbannt sein. Es wird nur noch ein
weitgehend verstecktes Dasein geführt. Der Mensch kann sich dadurch weit weg von
seiner Berufung bringen, und auch interessante Begegnungen aufgeben. Oder sein
Leben kann zum Stillstand kommen – bis hin zur Selbstaufgabe oder zum Suizid als
ultimative Lebensvermeidung.
Diese Lebensvermeidung muss nicht, kann aber mit einer Opferhaltung oder Verbitterung
einher gehen. Die eigene Lebensvermeidung wird erträglicher gemacht, indem anderen
oder der ganzen Gesellschaft die Schuld gegeben wird. Verpasste Begegnungen aller Art
tun weniger weh, wenn man sich sagt, dass die anderen ohnehin Idioten sind. Solch eine
Einstellung kann auch eine Belastung für Nahestehende sein, die der hochsensiblen
Person Lebendigkeit und das Erleben ihrer Berufung wünschen, aber damit immer wieder
ins Leere laufen.
Es kann aber auch sein, dass es kaum Nahestehende gibt, sondern vor allem
Einsamkeit. Oder vielleicht wird ein Angepasstsein bis hin zum Konformismus gelebt. Die
eigene Kreativität findet keinen Platz mehr und diese Abkehr wird durch Ausreden
erträglicher gemacht - oder durch das üppige digitale Unterhaltungsangebot, das die
Lebensvermeidung deutlich leichter (und verlockender) macht.
Die Lösung besteht in der Regel darin, sich genau dem zuzuwenden, das man bisher
vermied, und beschließt, den damit verbundenen Schmerz für eine Weile auszuhalten,
bis er ausklingen kann. Oft ist das gar nicht so schlimm: Sobald man etwas anschaut, vor
dem man Angst hat, wird es ein ganzes Stück kleiner. Und vielleicht will es uns nicht
einmal schaden und es war alles nur ein Missverständnis.
Wenn der hochsensible Mensch nicht irgendwann über seinen Schatten springt und
wieder zur Selbstwirksamkeit und persönlichen Souveränität findet, kann er in die innere
Leere bis hin zur Depression rutschen.
Eine schwierige Situation überwunden und gemeistert zu haben ist eines der
höchsten Gefühle. Den Mut dafür aufbringen fällt leichter, wenn man Unterstützung hat -
aus dem privaten Kreis oder Therapeuten bzw. Coachs.
Hochsensibilität und Alkohol
Zu diesem Thema gibt es leider keine Studien. Aber es könnte gut sein, dass
Hochsensible überdurchschnittlich oft zum Alkohol greifen (so wie das offenbar bei
Hochbegabten auch der Fall ist). Warum? Mehrere Gründe sind möglich:
•
Die Empfindungen können zu stark sein. Alkohol schafft schnelle Abhilfe, dämpft das
Erleben, nimmt die schärferen Kanten aus den Empfindungen heraus - allerdings mit
allen Nachteilen des Alkohols für Körper und Geist.
•
Menschen, die ihrer Hochsensibilität nicht bewusst sind, können Alkohol als
Bewältigungsstrategie wählen. Wenn also zu viel Alkohol im Spiel ist, sollte geprüft
werden, ob nicht eine unerkannte Hochsensibilität vorliegt. Die ganz wesentliche
Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität könnte sogar der Schlüssel zur Abkehr vom
Alkohol sein. Möglicherweise ist das bei Männern öfter der Fall, als bei Frauen. Denn
die mangelnde kulturelle Akzeptanz männlicher Hochsensibilität verstärkt noch den
Hang dazu, sich zu betäuben.
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Die Schattenseiten der Hochsensibilität
Solange man nicht durch den
eigenen Schatten geht, sieht man
nur falsches Licht. Das wahre Licht
liegt hinter dem Schatten, und nur
dort kann man wieder ganz werden.